Tod eines Mathematikers
Schröders Körper sackte zusammen. Mit leisem Pfeifen entwich sein letzter Atemzug. Aus dem faustgroßen Loch, das die Walther in Schröders Schädel gerissen hatte, sprudelte Blut und versaute den Teppichboden. Aber den brauchte jetzt ja sowieso niemand mehr.
*
Es dauerte Wochen, bis ich mich traute, in das Haus meines Vaters zu gehen. Mir war mulmig zumute, als ich eines Sonntagnachmittags die Haustür aufschloss. Im Flur blieb ich abrupt stehen. Am Ende des Ganges, vor dem Arbeitszimmer meines Vaters, sah ich den Umriss von Frau Willichs Körper, den die Kripo mit Kreide aufs Parkett gezeichnet hatte. Langsam, mit klopfendem Herzen, kam ich näher, betrachtete die Umrisse. Das linke Bein war angewinkelt, die Zeichnung des Rumpfes verschwand unter dem Türspalt. Frau Willich war mit dem Oberkörper im Arbeitszimmer und mit den Beinen im Flur zu Fall gekommen. Die Striche waren verwischt, Kreidestaub lag über dem dunklen Parkett wie ein zarter Schleier.
Ich schluckte, wäre am liebsten wieder gegangen. Zum Glück war die Tür zum Arbeitszimmer meines Vaters geschlossen. Mir war das ganz recht, ich hatte noch nicht die Kraft, den Ort zu betreten, an dem er gestorben war. Ich ging vorbei ins Erkerzimmer. Es roch nach altem Holz und Bohnerwachs. Der Geruch meiner Kindheit. Nichts hatte sich hier verändert. Nur, dass mir alles viel kleiner vorkam, als ich es in Erinnerung hatte.
Die Perserteppiche, denen sich meine Mutter mit solcher Hingabe gewidmet hatte, ruhten an gleicher Stelle auf dem Eichenparkett. Doch die handgeknüpften Landschaften aus Tausendundeiner Nacht waren von der Sonne verblasst, die Fransen verwuschelt. Frau Willich hatte es offenbar nicht so genau genommen wie meine Mutter. Davon zeugten auch die Kristalltropfen an den Lüstern, die vom Staub matt geworden waren. Das wuchtige Chesterfield-Sofa aus dunkelrotem Leder, das mein Großvater in England hatte anfertigen lassen, stand noch immer an der Wand neben dem Kamin. Das Leder war an einigen Stellen brüchig geworden. Über dem Sofa hing eine Sammlung alter Stahlstiche aus dem neunzehnten Jahrhundert, die ich schon aus Kindertagen kannte. Nur den Fernseher hatte mein Vater gegen ein neueres Modell mit riesigem Flachbildschirm ausgetauscht. Plötzlich war meine Vergangenheit wieder lebendig.
Ich sah meinen Vater. Wie er im Wohnzimmer vor der Glotze saß. Er verzog keine Miene, egal, was auf dem Bildschirm geschah. Manchmal hatte ich mich gefragt, ob er überhaupt mitbekam, welches Programm lief. Oder ob er den Fernseher als Alibi brauchte, um seinen Gedanken nachzuhängen. Meine Mutter, die mit Lockenwicklern im Haar und in Kittelschürze neben ihm saß, strickte, blätterte in Frauenzeitschriften, schnitt Kochrezepte aus oder löste Kreuzworträtsel. Zwischendurch schickte mein Vater sie in die Küche, um ihm ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Oder er hatte Appetit auf ein Schinkenbrot, das meine Mutter ihm schmierte. Er behandelte sie wie ein Dienstmädchen. »Ohne mich bist du nichts«, hielt er ihr oft vor. Meine Mutter schwieg. Oder lief ins Schlafzimmer, aus dem ich hinter verschlossener Tür ihr Schluchzen hören konnte. Nie öffnete sie, wenn ich klopfte und sie trösten wollte. Meine Mutter hatte meinem Vater nichts, aber auch gar nichts entgegenzusetzen. Er war älter, gebildeter, hatte sie finanziell in der Hand. Wann immer sich die Gelegenheit dazu bot, ließ er sie spüren, dass sie von ihm abhängig war.
Einmal hatte sich mein Vater zum Abendbrot Spargel mit Kartoffeln, Schinken und zerlassener Butter gewünscht. Doch meine Mutter hatte vergessen, Butter einzukaufen, und zum Spargel Margarine serviert. Mein Vater war ausgeflippt. Sprang vom Tisch auf, pfefferte seinen Teller auf den Steinboden in der Küche. Scherben flogen, Fett spritzte an die Wand. Er rannte raus, ins Arbeitszimmer. Zu seinen Formeln. Mutter weinte. Die Fettflecken waren noch lange zu sehen. Wie ein Mahnmal, das uns an den Jähzorn meines Vaters erinnern und in Schach halten sollte.
Ich schüttelte die Erinnerung ab, ging ans Fenster, sah hinaus in den Garten. Die Zweige der Rhododendren bogen sich unter dem Schnee. Einmal, als ich noch ein Kind gewesen war, hatte ich einen kleinen Vogel unter den Büschen gefunden. Der Kropf des Vogels war aufgebläht zu einer dicken Blase, sodass er nur noch leise fiepen konnte. Meine Mutter setzte den Vogel in einen Karton. Wir versuchten, ihn mit Brotkrumen zu füttern.
Als mein Vater nach Hause kam und den Vogel
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