Tod eines Träumers (Vera-Lichte-Krimi) (German Edition)
Aktentaschenträger und den einen und anderen, den Gerry zu kennen glaubte aus der Zeit, als er seine Großmutter in die Gemeinde begleitete.
Kaum ein Jüngerer schien dazugekommen zu sein. Nur der Anorakmann, der vielleicht in den Dreißigern war.
»Du willst den Bußgang mit uns gehen?«
Gerry sah erst jetzt den Mann, der vor den anderen stand.
Auch er alt, doch Gerry hatte ihn noch nie vorher gesehen.
»Ja«, sagte Gerry und senkte den Kopf. Er kannte den ganzen Zauber. Wenn er etwas erfahren wollte, dann war es wohl am besten, Teil des Zaubers zu werden.
»Geht auf die Knie«, sagte der Mann.
Dass diese Männlein und Weiblein das noch schafften.
Der Boden bestand aus hartem Parkett.
Die Beletage. Alle anderen Etagen waren 1943 abgebrannt.
Gleich ging das Gerutsche zum Altar los.
Gerry hatte es immer schon gehasst. Doch er rutschte wie alle anderen auf den Tisch mit der Brokatdecke zu, der den Altar abgab. Darauf ein schlichter Schrein.
Wenn sie da vorne angekommen waren, würde der Priester den Schrein öffnen und eine gusseiserne Variante von Jesu am Kreuz hervorholen und hochhalten.
Gab es doch immer wieder Gemeindemitglieder, denen dann die Tränen aus den Augen liefen.
Gerry hörte dem Text nicht zu, der gesprochen wurde.
Er versuchte, mit gesenktem Kopf nach allen Seiten zu sehen, ob ihm irgendetwas einen Anhalt gäbe, zu fragen.
Nach seiner Mutter. Seiner Geburt.
Er wurde erst wieder aufmerksam, als sie zum Aufstehen aufgefordert waren. Dass sie alle wieder hochkamen.
Der tägliche Bußgang hielt die Gemeinde fit.
»Du willst uns weiterhin besuchen?«
Gerry senkte den Kopf gleich wieder. Das konnte nicht falsch sein. Er sollte viel öfter sündigen, dann fiele ihm die Buße vielleicht leichter.
»Dann wasche dir dein Gesicht und kürze deine Haare.«
Gerry hätte beinah laut gelacht. Er wandte sich zum Gehen und wurde von einer Frau aufgehalten, die ihn anlächelte.
Wirkte sie verwirrt? Anders verwirrt als die anderen?
»Wo finde ich Irmela?«, traute er sich zu fragen.
Die kleine alte Frau strich ihm über das Gesicht.
Gerry war seltsam berührt von der Geste und doch auf dem Sprung, als wittere er eine Gefahr.
»Armer Junge«, sagte die Frau.
Er ließ sie stehen und fühlte sich schlecht dabei.
Alles ging viel zu schnell. Hauke Behn hatte Theo von der Grundschule in Brandum abgemeldet, und der Lehrer war beinah böse gewesen, einen guten Schüler mitten im Schuljahr zu verlieren. In der Diele des Hauses mit den blauen Fensterläden gegenüber der Polizeistation standen Kartons, die darauf warteten, gefüllt zu werden.
Frau Broder gab sich dem Schmerz des Abschiedes hin, was wenig passte zu der patenten Frau, die ihm seit zwei Jahren den Haushalt führte. Die Broder hatte Theo und ihn in ihr Herz geschlossen, doch vielleicht weinte sie auch, weil das eigene Leben in eine neue und letzte Phase ging.
Behn stand an dem Panoramafenster der Polizeistation und blickte auf den Deich, der nicht grünte und nicht blühte, nur herbstlich vegetierte und es ihm darum leichter machte.
Kein Schaf nickte ihm zu.
War er von allen guten Geistern verlassen, dass er in eine Zukunft ging, die auch Herr van Engelenburg kaum gewiss nennen konnte?
Wenn wenigstens Vera mit weiten Armen da gestanden hätte, um ihn aufzunehmen. Doch auch sie schien zu schwanken zwischen Freude und Skepsis.
Sie waren einfach angeschlagen, alle beide.
Was ist mit dem Schrank auf dem Dachboden, hatte Frau Broder heute Mittag gefragt.
Was war mit dem Schrank voller Kleider von Telsche?
Tote Kleider. Im Oktober war Hauke Behn oben gewesen, kurz bevor er seine Entscheidung traf. Hatte das eine und andere Kleid angefasst und sich an Tage erinnert, an denen sie getragen worden waren.
»Kennen Sie keine, die diese Kleider will?«
Das wollten Sie doch nie, hatte die Broder gesagt.
Nein. Das hatte er nie gewollt. Doch musste nicht mal ein Ende sein mit dem Festhalten?
Papa, du bist sentimental, hatte Theo gesagt.
War Theo bereit, sich von den Teddybären zu trennen, die seine Mutter gesammelt hatte? Doch Theo war ein Kind, und Bären waren Gefährten. Kleider waren das nicht.
Ein novembriger Tag da draußen, der einen niederzog.
In eine Weinhandlung kam nicht so viel Wetter hinein wie durch ein Panoramafenster am Deich.
Hauke Behn zuckte zusammen, als das Telefon klingelte. Seine Husumer Vorgesetzten hatten schon Recht. Was war das für eine Polizeistation, in der es so still blieb, dass der zuständige Kommissar
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