Tod im Albtal
mich nicht mehr erinnern.
Oben auf der Hochebene war die Luft auch heute würzig und kühl. Felder. Koppeln. Kleine Wäldchen. Wanderwege, die durch Wiesen führten. Auf ihnen rüstige Rentnerehepaare, sie mit Rucksack, er mit Stock. Dahinter grüßte der Kirchturm, und wie Ostereier im Nest standen die Häuser in Gruppen nebeneinander. Auf den großen Weiden grasten wie immer Pferde, die gemächlich ein paar Schritte tänzelten und wieder stehen blieben, um meinem Auto nachzusehen.
In meiner Kinderzeit waren wir im Herbst zum Drachensteigen hier oben gewesen. Oft hatten wir eine Wanderung zur alten Wallfahrtskirche Maria Hilf unternommen, wo ich staunend der Legende von dem Knecht lauschte, dessen Hilferuf an Maria erhört worden war. Oder wir gingen mit den Eltern zur geheimnisumwitterten Lindenquelle.
Meine Mutter war eine stramme und furchtlose Marschiererin, der die Berge hier vermutlich nur wie bessere Ameisenhügel vorkamen. Als Trost für die Südtirolerin bestiegen wir wenigstens ab und zu den Mahlberg, der zwar auch nur sechshundert Meter hoch war, dessen Aussichtsturm aber immerhin eine Fernsicht bis zu den Bergen des Nordschwarzwalds bot. Mamma hat immer bedauert, dass ich die Wanderlust nicht von ihr geerbt habe.
Marlies wohnte in einem schönen, modernen Einfamilienhaus am Waldrand, das allerdings ziemlich einsam lag. Von ihrem Haus führte eine Straße ins Dorf und ein kleineres Sträßchen, mehr eine Forststraße, in den Wald, es diente den Kundigen als Abkürzung nach Freiolsheim.
Den Vorgarten hatte sie mit Steinen und einem Brunnen sehr geschmackvoll gestaltet. Hätte sie ebenso viel Talent, sich anzuziehen, bräuchte sie meine Dienste nicht.
Ich klingelte, sie war sogar zu Hause und freute sich. Leider trug sie einen äußerst schlecht sitzenden Jogginganzug aus Nickistoff in allzu biederem Blau. Wahrscheinlich eine unsägliche Karstadt-Hausmarke. Der musste baldmöglichst verschwinden.
Wir küssten uns drei Mal, wie es sich in Südwestdeutschland in Sichtweite der französischen Grenze eingebürgert hat.
»Hallo, Marlies. Bist du inzwischen die ›Lady in Red‹? Hast du schon alles für deinen neuen Look eingekauft?«
»Nein«, erwiderte sie, und dann kam etwas ungemein Sympathisches. »Ich habe doch auf deinen Anruf gewartet. Mein Mann sagt, dass er mich ohne dich nicht mehr zum Einkaufen lässt. Trotz akuter Lebensgefahr.« Ich überhörte die Anspielung und lächelte säuerlich. »Komm rein. Kaffee? Machen wir gleich einen Termin aus, an dem wir eine gut gekleidete Frau aus mir machen?«
Ich setzte mich an ihren großen Familientisch, lehnte den Kaffee aber ab. Ich war stolz auf meine feinporige Haut und wollte sie mir möglichst lange erhalten. Deshalb Wasser, Tee, teure Säfte und Champagner.
Zwei Terminkalender raschelten. Bei ihr mussten Kinder und Hund betreut und versorgt werden. Ich hingegen hatte lediglich meine gesellschaftlichen Verpflichtungen zu sichten. Bei mir zu Hause gab es nicht mehr viel zu versorgen, seit Sammy nicht mehr da war. Mein Mann legte keinen Wert auf meine Kochkünste. Ihm genügte die Mikrowelle vollkommen für einen gelungenen kulinarischen Abend.
Schließlich war der Termin gefunden. Schon morgen.
Nach längerem Überlegen beschlossen wir, die Mannheimer Geschäftswelt mit unseren Kreditkarten zu entzücken. Wäre Marlies zehn Jahre jünger, würde ich mit ihr nach Heidelberg fahren und einiges aus der bunt-verrückten Kollektion NotTheSame erstehen oder irgendwas Nostalgisches in den kleinen Designerläden in den Altstadtgässchen am Neckarufer. Wäre sie hingegen zehn Jahre älter, ginge es nach Baden-Baden, und wir würden van Laack und Escada plündern und ansonsten in echt englischem vierfädigem Kaschmir baden.
So aber ging es eben nach Mannheim, und dort würde ich mit ihr in das Kleiderparadies Engelhorn & Sturm eintauchen. Geld war dabei kein großes Hindernis. Marlies, Fabrikantentochter, hatte geerbt, und ihr Mann arbeitete bei einer global agierenden Pharmafirma im Karlsruher Rheinhafen als Geschäftsführer. Wir würden die Exquisitabteilung erst wieder verlassen, wenn Marlies von Kopf bis Fuß so aussah wie die Frauen, die sie in den Zeitschriften bewunderte.
Als ich sie nach erneuten drei Küsschen verließ, fuhr ich nicht gleich wieder aus dem Tal heraus oder nahm – wie ich es manchmal tat – die schöne, wenn auch etwas längere Strecke über Freiolsheim und Schöllbronn hinunter in die Rheinebene. Stattdessen schaute ich auf
Weitere Kostenlose Bücher