Tod im Albtal
frische Dose Cola und eine Tüte Chips nachdachten, welcher Jens gemeint sein könnte.
»Hatte sich Friederike vor ihrem Tod anders benommen als sonst? Ist dir irgendetwas aufgefallen? Ich habe mir in diesem Punkt natürlich selbst auch schon Gedanken gemacht.«
Regina dachte nach. Ich rechnete mit einem Nein als Antwort.
»Ja. Ich fand schon, dass sie sich in der letzten Zeit verändert hatte. Sie war besser drauf als früher. Wirkte frischer und jugendlicher und hatte neue Hobbys. Sie interessierte sich auf einmal für den Schulchor. Und machte all das, was wir alle machen, wenn wir ein bisschen älter werden und nach einem Sinn im Leben suchen. Du weißt schon: Fitnessstudio, Französischkurs, Keyboardunterricht, Yoga für die Gelenkigkeit, Literaturabende – das volle Programm. Hätte nur noch Bridge gefehlt. Im Grunde war sie für diese ganzen Damenhobbys ein bisschen zu jung. Sie fragte mich sogar nach der Möglichkeit einer Beförderung. Doch da konnte ich ihr nicht viel Hoffnung machen. Im Moment ist bei den Teilzeitkräften kaum Spielraum.«
»Sie wirkte auf dich also nicht deprimiert? Verängstigt?«
»Gar nicht. Eher in einer Art nervöser Aufbruchsstimmung. Manche Frauen verändern sich so, wenn sie in die Wechseljahre kommen, obwohl sie dafür bestimmt noch zu jung war. Ich kann davon mit meinem vorwiegend aus Damen bestehenden Kollegium ein Lied singen. Jede Woche ein kleinerer Nervenzusammenbruch.«
Seufzte. Stand auf. Sah in den Schulhof hinab.
»Mein Mann sagte, sie wollte sogar für den Vorstand der ›Liebhaber des Staatstheaters‹ kandidieren. Das hätte sie sich früher nicht getraut. Und sie wurde Schriftführerin bei den ›Ballettfreundinnen‹. Gut, wenn ich jetzt darüber spreche, Swentja, denke ich, vielleicht hatte sie mit dem Gedanken, eigene Kinder zu bekommen, abgeschlossen und sich deshalb eine neue Welt zusammengebastelt. Eine, die ein wenig Sinn versprach. Auf Dauer ist es, glaube ich, genauso lästig, die Frau eines aufstrebenden Politikers zu sein wie die eines Arztes.«
»Oder eines Steueranwalts. Wir scheinen alle im selben Boot zu sitzen. Wir sind eigentlich intelligent genug, um allein zurechtzukommen, aber wir haben keine Lust dazu, denn unsere Männer verdienen mit der gleichen Intelligenz das Dreifache.«
»Wie du das sagst! Siehst du dich nicht als emanzipierte Frau?«
»Nein. Und selbst wenn, unsere sekretärinnengepflegten Männer tun es nicht. Aber zurück zu Friederike: Hatte diese Entwicklung eigentlich vor oder nach dem Tod ihrer Mutter begonnen?«
Regina dachte nach.
»Danach. Definitiv danach. Und wo du das ansprichst – ich dachte eigentlich, dass der Tod ihrer Mutter sie mehr mitnehmen würde. Die beiden waren so eng und waren sich in vielem so ähnlich. Aber sie hat nur gesagt: ›Ich habe sie sehr geliebt und werde sie immer lieben für das, was sie für mich getan hat, aber ich kann ihren Tod jetzt akzeptieren.‹ Das fand ich tapfer. Sie war ja ein ziemliches Mamakind. Vielleicht auch, weil sie keine eigenen Kinder hatte. Weißt du, Swentja, ich denke, dass für manche Menschen der Tod der Mutter auch etwas wie eine Befreiung sein kann. Es bedeutet, ihr endlich nichts mehr beweisen zu müssen.«
Das konnte ich nicht nachvollziehen. Meine Mutter war eine herzliche Frau gewesen, die in der italienischen Auffassung lebte, dass ich die tollste Tochter aller Zeiten war. Insgeheim teilte ich ihre Meinung bis heute.
Auf den Gängen läutete es vielstimmig. »Ich muss gehen. Wenn die Direktorin mal anfängt zu schludern und zu spät in die Klasse zu kommen, dann machen es bald alle genauso. Als Dompteuse eines Haufens von Schülern und manchmal kaum sonderlich viel reiferen Lehrern dürftest du eigentlich nie faul, nie abwesend, nie müde sein. Ich wundere mich wirklich, wie ich es geschafft habe, meine Kinder zu kriegen und trotzdem den Überblick zu behalten.«
Ich folgte ihr auf den Gang. Kinder tobten an mir vorbei. Ein Junge blieb ruckartig stehen, machte einen Diener, gab mir die Hand und sagte: »Guten Tag!«
Ich war regelrecht geschockt. Wo gab’s denn so was noch?
»Friederikes Klasse«, lächelte Regina beiläufig. »Siehst du? Sie hat sie zur Höflichkeit erzogen. Toll, nicht wahr? Die haben jetzt eine Freistunde, und ich muss mir kaum Gedanken um sie machen. Wo andere den Klassenraum auseinandernehmen, malen sie und spielen ganz brav für sich. Ein Glücksfall. Sie haben nämlich noch keinen festen neuen Lehrer«, sie seufzte, »und da
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