Tod im Albtal
ein Sohn. Der Jens?«
»Ja, genau.«
»Dann darf ich mich entschuldigen. Wir sind eigentlich vor allem an Mädchen interessiert, denn im Rahmen der Pisastudie …«
»Ich kann Ihnen einiges erzählen, auch wenn mein Jens kein Mädchen ist. Das ist wieder typisch für diese deutsche Beamtenbürokratie.«
»Hm. Also gut. Ausnahmsweise. Darf ich zwecks Niederschrift Ihrer Erfahrungen kurz eintreten?«
Sie war durch das Vorgeplänkel jetzt davon überzeugt, es mit einer echten Beamtin zu tun zu haben. Schön blöd. Sie hätte nur meine Schuhe beachten sollen. Welches dieser Behördenmäuschen konnte sich Paul-Green-Schuhe für hundertfünfzig Euro leisten?
Ich durfte also eintreten.
Was Hagen Hayden allerdings mit mir anstellen würde, wenn er von dem Manöver hier Wind bekäme, mochte ich mir gar nicht erst ausmalen. Bisher war alles, was ich getan hatte, harmlos gewesen, aber jetzt log ich erstmals richtig und maßte mir sogar Ämter an. Ich tröstete mich damit, dass das Amt, welches ich mir anmaßte, gar nicht existierte.
»Also, dazu könnte ich Ihnen was erzählen«, fing sie wieder an und machte sich nicht die Mühe, mich weiter in einen Raum hineinzubitten. Wir blieben im Flur stehen. Über der Eingangstür hing ein riesiges schwarzes Kreuz mit einem ebenfalls schwarzen Jesus. Ein Spiegel fehlte. Stattdessen ein schlicht gerahmtes Foto des aktuellen Papstes, der sanft auf uns herunterlächelte. Ihre Augen musterten mich aggressiv und lauernd. Frau Gramlich war tatsächlich eine höchst unangenehme Person.
Ihre Jeans war unglaublich mies geschnitten und stammte wahrscheinlich aus einem Versandhandel, der in Bangladesch nähen ließ. Die würde ich nicht einmal zum Aufräumen des Kellers anziehen. Ich konnte Frauen kaum ertragen, die T-Shirts trugen, die aussahen, als wären sie bei einem Waschmitteltest »Nach fünftausend Wäschen immer noch wie neu« frühzeitig ausgeschieden.
Frau Gramlich blieb also im Vorraum stehen und postierte sich so neben Benedikt, dass es aussah, als nickte er ihr wohlwollend zu.
»Diese Schulbürokratie ist wie ein Trichter, wo oben individuell begabte Kinder hineingeworfen werden und unten kommen nur noch die heraus, die in ein gewisses System passen. Ein System, in dem die Bibel keine Rolle mehr spielt, in der man sie verlacht und ihre Gesetze absichtlich missachtet.«
Oje.
»Mein Jens ist ein anständiger und ruhiger Junge. Er glaubt an Gott und an bestimmte christliche Maßstäbe. Damit passt er natürlich nicht in eine Klassengemeinschaft von Kindern, für die von zu Hause aus nichts mehr tabu ist. Die Kinder werden aufgefordert, den Lehrern gegenüber ihre Meinung zu sagen und sogenannte moderne Gedichte zu lesen, und der Religionsunterricht gerät zur Farce. Sie reden dort nicht über Gott, unseren Gott, sondern über den Islam, über Juden und über Politik. Und das Schlimmste ist – über …«
»Sex?«
»Ja. Auch. Das ist gegen alles, was wir glauben.«
»Wir?«
»Der Jens und ich. Wir leben getrennt von Jens’ Vater. Der kennt auch keine christlichen Werte mehr, sondern lebt in Sünde. Es kann doch nicht falsch sein, was jahrhundertelang unsere Zivilisation ausgemacht hat. Keuschheit und Schamgefühl.«
»Und Frau Schmied?«
»Frau Schmied hat nicht erkannt, welches Potenzial in Jens steckte. Wie auch? Sie hat ja nur alberne Spiele mit den Schülern gemacht. Sie haben gesungen, sollten in einem sogenannten Stuhlkreis allerlei persönliche Dinge ausplaudern, in letzter Zeit haben sie sogar getanzt, auch die Jungs, und sich verkleidet. Dabei hat sie die Kinder angeblich beobachtet und sich einen Eindruck über ihre Reife verschafft.«
Die Augen der Frau funkelten vor Abneigung. Doch es kam noch schlimmer.
»Sie hat irgendeinen türkischen kleinen Jungen fürs Gymnasium empfohlen, weil er … Moment, wie hieß das noch … ein intelligentes Körpergefühl hat. Ein Mohammedaner. Nicht lange, und wir haben Imame in der Schule, die unseren religiösen Unterricht gestalten.«
Frau Gramlichs Augen blitzten böse. »Dabei hatte ich anfangs einen ganz guten Eindruck von ihr. Dass auch die einer wertelosen und billigen Welt verfällt, konnte ja keiner wissen …«
»Sie hatten also offenen Streit mit ihr?«
»Natürlich. Ich habe ihr gesagt, dass mein Jens ein berufener Gymnasiast ist. In einer Realschule ist der doch total unterfordert. Da passt er nicht hin. Er ist viel zu sensibel und fühlt viel zu tief für die Realschule.«
Oje. Diese Sorte Mutter!
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