Tod Im Anflug
er nun ein wenig anders aussah als sonst. Alex lag in einer Ecke des riesigen Containers, mit dem Rücken halb an die Wand gelehnt. Auf den ersten Blick hätte man meinen können, er würde einen Rausch ausschlafen. Friedlich war sein Gesichtsausdruck allerdings nicht. Die Augen blickten starr ins Leere, und der Mund war weit aufgerissen, so weit es für einen Flügellosen eben möglich war.
Wie bei Neptunus
, ging es Tom durch den Kopf. Im Unterschied zu Neptunus hatte Alex allerdings kein Loch in der Brust. Dafür hatte er einen genauso rosa leuchtenden Rachen, fiel Tom auf.
»Wird er jetzt ein Kormoran oder wenigstens eine Gans, Tom? Hat er es endlich geschafft? Wird er jetzt einer von uns?«, unterbrach Rio Toms Gedanken.
»Ich weiß es nicht, Rio. Zu einem Vogel wird man nur, wenn man ein untadeliges Leben geführt hat – jedenfalls soweit ich das weiß«, gab Tom zurück. Konzentriert versuchte er, sich ein Bild vom Fundort des Toten zu machen und sich die Auffindesituation einzuprägen. So nah war auch er noch nie einem toten Flügellosen gewesen.
»Neptunus bleibt bestimmt ein Vogel. Er war noch so jung. Etwas so Schlimmes, das ihm den Verbleib in der gefiederten Welt unmöglich machen würde, kann er in seinem kurzen Leben nicht getan haben.« Rio plapperte immer weiter. »Stell dir doch nur mal vor, einer von uns müsste zurück in die Welt der Flügellosen. Kannst du dir das vorstellen? Alles zu Fuß machen, sich jahrelang mit der eigenen Brut rumschlagen – oder in Monotonehe leben zu müssen … Das wär nichts für mich.« Rio redete und redete, ohne zu merken, dass Tom sich bereits in Gedanken mit der Ermittlung herumschlug.
»Das heißt Monogamie, Rio. Ich weiß gar nicht, was du willst – wir Gänse und auch Schwäne leben ebenfalls monogam«, korrigierte Tom seinen Freund und widmete sich wieder dem Toten. War dieser Fundort auch der Tatort?
»Wie langweilig.« Rio schüttelte sich. Obwohl er genau wie Tom bisher ohne praktische Erfahrungen in Bezug auf das andere Geschlecht war, schwelgte er bereits gerne in der Theorie. »Also ich werde jedenfalls mein Bestes tun, um nicht als Flügelloser wieder auf die Welt kommen zu müssen. Es ist doch für alle Lebewesen erstrebenswert, ein Vogel zu werden, selbst wenn man in Monotonehe leben muss wie ihr.«
Tom ignorierte Rios Geschwätz von den Vorzügen der Zeitabschnittspartnerschaft und sah sich weiterhin den Körper im Müll genau an. Immer mehr Flügellose versammelten sich unterdessen um den Container und wollten einen Blick auf die Leiche erhaschen.
»Bitte machen Sie Platz!«, rief plötzlich ein junger Flügelloser in dunkelblauer Uniform, den Tom sogleich als Polizisten identifizierte. Nun kam Bewegung in die Menge und sie teilte sich, so dass mehrere Polizisten auf den Container zusteuern konnten.
»Gehen Sie bitte weiter nach hinten! Ein paar Meter noch!«
Ein anderer Polizist half jetzt dem jungen Kollegen dabei, den Fundort mit rotweißem Flatterband abzusperren und so ihre neugierigen Artgenossen auf Abstand zu halten. Nur widerwillig wichen die Zuschauer zurück. Unter den Schaulustigen erkannte Tom einige vertraute Gesichter. Siggi und Katharina machten genau so lange Hälse wie Lotte und ihr Dackel. Auch Ede war da, genauso wie Jupp und Rentner Karl-Heinz, dessen Ehefrau Elke nun endlich wieder im Warmen sitzen konnte. Nur Luzie konnte Tom nirgendwo entdecken, die stand wohl unter Schock und hatte sich zurückgezogen, mutmaßte Tom.
Aufmerksam beobachtete er, was die Polizisten dort unter ihm trieben. Einer stand am Flatterband und hielt die Schaulustigen davon ab, näher heranzurücken, während zwei weitere die Umstehenden befragten und sich deren Antworten notierten.
Noch ein Grund, warum es besser war, kein Flügelloser zu sein,
dachte Tom. Ob bei
CSI
,
Magnum
oder sonstigen Krimis, ständig machten sich die Ermittler Notizen und mussten anschließend in zahllosen Überstunden endlose Berichte und Protokolle schreiben. Zum Glück musste er das nicht.
Weitere Polizisten trafen am Fundort ein. Männchen in Zivil. Wie beim
Tatort
, freute sich Tom. Das waren richtige Kommissare – nun wurde es interessant.
Doch bevor diese ihre Arbeit aufnehmen konnten, wurde die Leiche von einem Gerichtsmediziner untersucht. Ständig wurde fotografiert. Das Klicken der Auslöser und das folgende Blitzlichtgewitter waren zu viel für einige übernervöse Vögel, die hastig davonflogen. Es wurden Fotos vom Fundort, der Leiche in
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