Tod Im Anflug
allen Details und auch von den Umstehenden geschossen. Die äußere Besichtigung des Körpers erfolgte noch im Container, dann wurde er herausgehoben.
»Das war jetzt die grobe Leichenschau und nun wird er zum Gerichtsmedizinischen Institut gebracht«, kommentierte Tom das Geschehen.
»Sag mal, woher weißt du so was eigentlich, Tom?«, fragte Rio unvermittelt. »Woher kennst du solche Ausdrücke?
Grobe Leichenschau, Gerichtsmedizinisches Institut?
Und wieso kannst du eigentlich so gut Zeugen befragen, so wie vorhin Optima? Das ist doch nicht normal für eine Gans.«
»Ähm, ich habe … studiert«, stammelte Tom verlegen. Rio hatte sich also Gedanken gemacht und war auf eine Ungereimtheit gestoßen.
»Studiert?«, argwöhnte Rio.
»Fernstudium – im wahrsten Sinne des Wortes.«
»Was meinst du damit? Ich verstehe gar nichts, Tom.«
»Ist doch egal, ich kann’s eben.« Tom wollte auf keinen Fall näher auf dieses Thema eingehen. »Und jetzt los, hier ist die Vorstellung ohnehin beendet«, lenkte er schnell ab. »Wir müssen Amulet finden!«
8
Dröhnendes alarmiertes Geschnatter empfing die Neuankömmlinge und argwöhnische Blicke klebten an ihnen. Die brütenden Vögel fühlten sich enorm durch ihre Anwesenheit gestört. Unbehaglich setzten die Freunde einen Schritt vor den anderen.
»An der Trauerweide links im Schilf«, sagte Rio und achtete darauf, keinem Nest zu nahe zu treten.
Bevor Tom bei den Müllcontainern aufgetaucht war, hatte Rio dort ein Graugänsepaar nach Amulet gefragt – und es hatte ihm tatsächlich eine Wegbeschreibung zu ihrem Nistplatz geben können. Der ewig trocknende Kormoran war also doch zu was nutze, stellte Tom zufrieden fest.
Die meisten werdenden Eltern streckten ihnen ihre grapschenden und zischenden Schnäbel entgegen. Im Eiltempo watschelten Tom und Rio über sumpfigen Boden an ihnen vorbei.
»Amulet?«, fragte Tom die erste Graugans, die er im Schilf auf einem Nest sitzend antraf.
»Nächstes Nest«, antwortete die nur knapp und deutete mit dem Kopf auf ein Nest nur ein paar Meter neben ihr.
Amulet war gerade aufgestanden und bedeckte ihr Gelege mit wärmenden Daunen. Ihr Ganter hielt Wache und beäugte die Fremden misstrauisch. Rasch nahm er eine drohende Haltung ein, während Tom sein Anliegen vortrug und Amulet um eine Zeugenaussage bat.
»Dafür habe ich jetzt gar keine Zeit. Ich habe nämlich Hunger. Meine Verwandten und ich treffen uns auf ein Häppchen Kräuter auf dem Polderfeld. Gleich geht’s los.«
»Bitte, Amulet. Wir brauchen dringend deine Aussage. Neptunus’ Mörder läuft noch immer frei herum.«
Amulet seufzte. »Also gut«, näselte sie ganz nach Gänseart, »was genau wollt ihr denn wissen?«
»Erzähl uns bitte alles, was du in jener Nacht beobachtet hast.«
»Es war ja schon recht dunkel. Das Hafengelände wurde nur vom Leuchtturm und von ein paar Lampen erhellt. Alles war ruhig, bis sich plötzlich eine Wohnwagentür öffnete und lauter Streit ausbrach. Es wurde sehr, sehr ungemütlich und einige Vögel suchten trotz der Dunkelheit nach einem neuen Schlafplatz. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich ihn bereits oben auf dem Gehweg entdeckt. Er ging sehr langsam und torkelte.« Amulet unterbrach ihre Aussage und gab sich der Federpflege hin. Sie legte einige losgelöste Daunen vorsichtig auf ihr Gelege und bugsierte sie auf den Eiern immer wieder an eine bessere Stelle.
»Und dann?«, fragte Tom ungeduldig.
»Dann fiel der Reiher plötzlich wie ein Brett um und rutschte mit dem Kopf voran ein Stück den Hang hinunter. Mir blieb fast der Atem stehen, als ich ihn so stürzen und rutschen sah. Ich wusste ja nicht, was ihm zugestoßen war. Bin schließlich kein Vogeldoktor.«
»Wenn du das alles gesehen hast – warum hast du dich dann nicht gleich gemeldet? Schon seit zwei Tagen suchen wir nach Zeugen«, raunzte Rio Amulet an. Sie musste doch von ihrer Ermittlungsarbeit etwas mitbekommen haben.
»Konnte ich wissen, dass das so wichtig ist? Immer wieder sterben Vögel – und nie fragt jemand danach. Konnte ich ahnen, dass es in diesem Fall anders ist? Außerdem: Ich bin mit der Brut beschäftigt. Da kann ich nicht so einfach mein Nest verlassen – schon gar nicht für so etwas Absonderliches wie eine
Zeugenaussage
.«
»Wieso das Nest verlassen? Das hättest du doch deinem Ganter überlassen können. Ein paar Stunden auf den Eiern, das hätte er doch wohl geschafft. Arbeitsteilung nennt man das bei uns.« Rio ließ nicht locker.
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