Tod Im Anflug
Anfang für eine Befragung mit heiklem Hintergrund.
»Tut mir leid. Ich kenn mich mit Fischfang nicht so gut aus«, entschuldigte sich Tom. Fahrig paddelte er hin und her, achtete aber sorgfältig auf größtmögliche Distanz zu den langen Reiherschnäbeln.
»Ja, ja, schon gut. Los, verzieh dich und lass uns in Ruhe. Jetzt müssen wir wieder von vorne anfangen.« Vri Jon und die anderen Reiher tänzelten ein wenig, schüttelten sich einmal gut durch und erstarrten wieder zu Säulen. Der nächste unachtsame Fisch würde kommen.
»Entschuldigung, aber …«, begann Tom und wurde sofort unterbrochen.
»Was denn noch?«, fiel ihm Vri Jon ins Wort. Hungrig und ohne Fisch in Sicht war mit ihm nicht gut auszukommen. Dann schien ihm etwas zu dämmern. »Hast du etwa Neptunus’ Mörder gefunden?«, fragte er interessiert.
»Nein, aber ich bin dabei«, beeilte sich Tom zu sagen und konnte gerade noch ein ängstliches Aufflattern seiner Flügel – und damit ein erneutes Verscheuchen der Fische – unterdrücken. Um keinen Preis wollte er Vri Jon noch mehr reizen.
»Und was willst du dann hier?«
»Ich habe noch einige Fragen«, sagte Tom fest. Er konnte jetzt nicht klein beigeben. Er war nun schon bis hierher gekommen, und eine zweite Befragung würde er nach diesem Erlebnis nicht mehr wagen. Es hieß also: Jetzt oder nie.
»Was sollen denn das für Fragen sein?« Vri Jon blickte Tom misstrauisch von oben herab an.
»Lass gut sein, Vri Jon.« Der alte Veha schaltete sich nun ein. »Er kann doch nichts für deinen Hunger.«
»Und ob er das kann. Hätte er nicht so eine schlampige Landung hingelegt, dann hätte ich jetzt was im Magen«, maulte Vri Jon.
»Was möchtest du wissen, Tom?«, fragte Veha entgegenkommend, ohne weiter auf Vri Jon einzugehen.
»Tja, ich wollte euch fragen, wo ihr ward, als Neptunus starb.« Die Antwort auf Vehas Frage war alles andere als diplomatisch – aber jetzt gab es kein Zurück mehr.
»Ich fasse es nicht. Dieses kleine Gänsefüßchen will wissen, wo wir waren? Weiß der nicht, wer wir sind?« Vri Jons lange schwarze Schopffedern wippten mehr als verdächtig auf und ab.
Tom zog den Kopf ein. Es war fast so schlimm, wie er befürchtet hatte. Einige der umstehenden Reiher streckten sich nun ebenfalls, wölbten ihre weißen Brustschilde vor und signalisierten damit ihren Schulterschluss mit Vri Jon.
»Er ist der Einzige, dem etwas an der Aufklärung von Neptunus’ Tod liegt. Haltet euch also zurück, Freunde. Du vor allem, Vri Jon.« Veha schaute seine Verwandten einen nach dem anderen eindringlich an. »Also, Tom, du willst wissen, wo wir waren, als Neptunus starb. So, so. Warum?«
»Das ist so üblich, reine Routine. Man beginnt immer bei der Familie.«
»Aha, Routine. Bei der Familie. Und warum?«
»Weil zum einen die Familie viel über das Opfer und die Lebensumstände sagen kann, ebenso über Freunde und Feinde. Und zum anderen … weil es auch in einer Familie nicht immer harmonisch und friedlich zugeht. Streit, Eifersucht, Habgier – es gibt viele Gründe, jemanden zu töten.«
Bevor die Reiher empört auf Toms Antwort reagieren konnten, sprach er schnell weiter und lenkte die Befragung in eine andere Richtung.
»Was könnt ihr mir über Neptunus erzählen? Ich würde ihn gerne besser kennenlernen, wissen, was er mochte, wen er kannte, liebte oder mit wem er stritt. Je mehr ich erfahre, umso besser kann ich mir ein Bild von ihm machen.«
»Neptunus«, begann Veha bedächtig, »war ein Jungvogel aus dem letzten Jahr. Er hat den ersten Winter einigermaßen gut überstanden. Bei der Jagd war er ein richtiger Einzelgänger, wie bei uns Reihern üblich. Er liebte Fisch jeglicher Art, auch wenn Frösche und Mäuse einfacher für ihn zu fangen waren. Er war ein guter Reiher, jeder mochte ihn. Bei Fremden war er zurückhaltend und bei Freunden gesellig, ja, so sind wir Reiher nun einmal: Einzelgänger und doch gesellig.«
»Und mit wem hatte er Streit? Auch wenn ich mich wiederhole, aber Streit kommt in der besten Familie vor«, sagte Tom keck.
»Das ist eine Unverschämtheit, Veha, dass dieser kleine Hänfling so von uns spricht. Weiß der denn wirklich nicht, wen er hier vor sich hat?« Ein weiterer Reiher war jetzt aufgebracht. Gerade noch hatte er auf einem Bein im Wasser gestanden und so getan, als sei er aus Stein.
»Azimut – ruhig!« Dann wandte sich Veha wieder Tom zu. »Worüber hätten wir uns denn streiten sollen, Tom? Wir sind friedliebend, das haben
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