Tod im Apotherkerhaus
merkte, dass ihr das Lesen mit der Zeit immer leichter fiel. »Mein Gott, Liebste, wie lange habe ich nur geschlafen? Es wird ja schon ganz dämmrig draußen!« Rapp erschien gähnend in der Tür. »Weißt du, wie spät es ist?«
»Vorhin hat es fünf geschlagen.« Mine lächelte. »Ich wollt dich nicht stören.«
»Was denn, schon nach fünf? Ich habe mich doch für sechseinhalb Uhr mit Fixfööt im Apothekenhaus verabredet! Du hättest mich wecken müssen! Ich wollte doch noch die Reste des Thesaurus richten. Nun ist die Zeit vertan.«
Mine stand auf. »Gar nix ist vertan. Du musst deinen Schlaf haben, das ist wichtiger. Und dafür sorg ich.« Sie küsste ihn, und wie nicht anders erwartet, war er augenblicklich besänftigt. »Na schön, aber ich muss jetzt sofort los.« »Willst du nicht vorher noch was essen?« »Liebste!« Er sah sie in so komischer Verzweiflung an, dass sie lächeln musste.
»Gut, gut, ich hab's verstanden.«
Erleichtert umarmte er sie. »Du musst mir Glück wünschen, wenn du mir Glück wünschst, wird alles klappen.« »Das tu ich doch.«
»Und warte nicht auf mich.« In Windeseile zog er eine dicke Joppe an, setzte eine Mütze auf, und ehe sie sich's versah, war er fort.
Sie blickte ihm nach und seufzte. Irgendwie war ihr alles zu schnell gegangen.
Und irgendwie hatte sie ein ungutes Gefühl.
Kapitel zwölf,
in welchem ein Toter des Lesens mächtig zu sein scheint
und Kupfersalz, Flusssäure sowie Königswasser
eine nicht unerhebliche Rolle spielen.
R app hastete mit geschlossenem Kragen und hochgezogenen Schultern vorwärts. Typisches Hamburger
Nieselwetter herrschte an diesem frühen Sonntagabend, ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagen mochte.
Er verschnaufte einen Augenblick, eilte weiter, während er an die Stunden dachte, die er durch unnützes Schlafen vergeudet hatte. Er würde kaum noch Muße finden, die verbliebenen Stücke seines Thesaurus so herzurichten, dass ein Zurückordnen des Hauptteils der Sammlung problemlos durchzuführen war. Nun ja, es musste trotzdem irgendwie gehen, und Mine hatte es nur gut gemeint, als sie ihn schlafen ließ.
Endlich bog er in die Deichstraße ein, wo ihm Pfützen, Schlamm und Unrat entgegenstarrten. Keine Menschenseele war zu sehen; die Stille zwischen den Häusern schien ihm fast unheimlich. Doch, Gott sei Dank, da standen sie noch: die beiden Krahnzieherkarren, die Fixfööt und er am Morgen vor seinem Apothekenhaus abgestellt hatten. Der Anblick der Wagen beruhigte ihn. Es waren solide Karren, starkbödig und zweirädrig, geschaffen für den Transport schwerer Güter durch einen einzelnen Mann. Alles würde heute Nacht gut werden.
Schritte unterbrachen Rapps Gedanken. Mittlerweile war es so dunkel, dass er die sich nähernde Gestalt nicht sofort erkannte. »Bist du es, Fixfööt?«
»Guten Abend, Herr Apotheker«, sagte Doktor Fernäo de Castro.
»Donnerwetter, das ist aber eine Überraschung!«, entfuhr es Rapp. »Wolltet Ihr zu mir, Herr Doktor?« Statt einer Antwort trat der Physikus näher und musterte prüfend die Gesichtszüge seines Gegenübers. »Euren Zehen geht es weiterhin gut?«
»Aber ja, wieso fragt Ihr? Eure Salbe war ausgezeichnet, ich sagte es Euch doch schon neulich Abend.« Der Arzt begann zu lächeln. »Da Ihr mir diese Antwort gebt, darf ich davon ausgehen, dass Ihr der >richtige< Apotheker seid. Die Ähnlichkeit zwischen Euch und Eurem Imitator ist wirklich verblüffend. Doch um auf Eure Frage zurückzukommen: Ja, ich wollte zu Euch. Zwar habe ich noch nichts herausgefunden, was Euch in Eurer Situation helfen könnte, aber wenn Ihr erlaubt, würde ich gern einen Blick auf Euren Thesaurus werfen.«
»Nichts leichter als das! Ich freue mich, Euch zu sehen«, rief Rapp, und er meinte es ehrlich.
»Dann passt es also? Wunderbar. Ich gebe zu, der Zeitpunkt meines Besuchs ist etwas ungewöhnlich, aber ich komme gerade von einem Patienten, der ganz in der Nähe am Rödingsmarkt wohnt. Da bot sich der kleine Umweg an.« »Ich hätte mich sicher auch schon mit Euch in Verbindung gesetzt, aber in der Zwischenzeit sind so viele Dinge passiert, dass ich einfach nicht die Zeit dafür fand.«
Der Physikus zog die Augenbrauen hoch. »Ach? Was denn?« »Das erzähle ich Euch besser im Haus.« Rapp schloss auf und bat den Gast herein. »Seid willkommen. Wartet, ich entzünde einen Leuchter.«
Als es hell in der Offizin wurde, blickte der Physikus sich neugierig um. »Ich war noch nie in Eurer
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