Tod im Dünengras
richtige Strophe, in der richtigen
Tonlage!
Zum Glück rettete Giovanna die Familienehre. Carolin hatte allen
Grund, stolz auf diese Verwandte zu sein, die ihre Erwartungen nicht nur
erfüllte, sondern sogar übertraf. Ein paar Mal musste ein Lied unterbrochen
werden, weil die anderen Chormitglieder vor lauter Ergriffenheit das Singen
vergaÃen, sobald Giovanna einsetzte. Ihre Stimme war ausdrucksvoll und hatte
ein erstaunliches Volumen. Als sie »Amazing Grace« sang, dachte niemand mehr an
Utta Ingwersen. Giovanna sang stolz und frei, voller Konzentration auf die
Melodie, mit der sie ihre Zuhörer berauschte. Aber war das ein Wunder? Giovanna
war ja selbst unberührt geblieben von dem, was sie beobachtet hatte. Ganz im
Gegensatz zu Mamma Carlotta â¦
Als Giovanna in Keitum eintraf, war Carlotta noch immer völlig
konfus, wohl auch deshalb hatte Giovannas Bemerkung bei ihr eingeschlagen wie
eine Bombe. »Während ich den Taxifahrer bezahlte, fuhr gerade Vera Ingwersen
vom Parkplatz. Hieà es nicht, sie sei krank?«
Mamma Carlotta hatte sie entgeistert angestarrt. »Das kann nicht
sein. Ihr Mann hat gesagt, sie liege im Bett und könne nicht aufstehen.«
»Dann hat sie eine Zwillingsschwester.«
»Oder es ging ihr so schlecht, dass sie zum Arzt musste«, überlegte
Mamma Carlotta.
»Immerhin ging es ihr gut genug, um ihr eigenes Auto zu benutzen.«
Giovanna lachte. »Schau nicht so konsterniert, Carlotta! Hast du noch nie eine
Krankheit vorgeschoben, wenn du Zeit für etwas Verbotenes brauchtest? Oder für
etwas, was niemand wissen sollte? Oder weil du keine Lust hattest, eine
Einladung anzunehmen?«
Mamma Carlotta brauchte nicht lange nachzudenken. Richtig, wenn die
Haushälterin des Pfarrers zum Essen einlud, hatte sie gelegentlich
Kopfschmerzen vorgetäuscht, um zu Hause bleiben zu können, weil das Essen im
Pfarrhaus derart fett war, dass sie lieber unter der Lüge litt als später unter
einer Gastritis. Aber dass für Vera Ingwersen etwas wichtiger sein konnte als
eine der letzten Chorproben vor dem Chorwettbewerb, das erschien ihr undenkbar.
Und wenn es tatsächlich etwas Wichtigeres für sie gab â was konnte es dann
sein?
Vielleicht ein weiterer Versuch, ihren Mann mit der schönen
Kellnerin in flagranti zu erwischen? Aber Susanna Larsen war pünktlich zur
Chorprobe erschienen. Mit ihr konnte Veras Verschwinden also nichts zu tun
haben. Dafür vielleicht mit dem Brief, den Vera erhalten hatte? Womöglich hatte
sie durch ihn erfahren, dass Susala, die Geliebte ihres Mannes, eine Mörderin
war? Und Vera hatte sich daraufhin die Personalakte vorgenommen und den Beweis
entdeckt, der auch Mamma Carlotta sofort ins Auge gesprungen war. Der Beweis,
dass Susala Utta Ingwersen auf dem Gewissen hatte.
Kein Wunder, dass das Kettchen, das Sandra zum Geburtstag bekommen
war! Es hatte dort nie im Verkauf gelegen! Harm Ingwersen hatte sich geirrt.
Auf dem Passfoto war es ganz deutlich zu erkennen, das Kettchen mit dem Kreuz,
das Utta Ingwersen in der Stunde ihres Todes fest umklammert hatte. Also hatte
sie es nicht sich selbst in ihrer Not abgerissen, sondern ihrer Mörderin!
Der Fall wäre gelöst, wenn Erik davon wüsste. Aber wie sollte Mamma
Carlotta ihm den entscheidenden Tipp geben? Dann müsste sie verraten, dass sie
in Susannas Bewerbungsunterlagen geschnüffelt hatte. Nein, nur das nicht! Erik
konnte sehr harsch reagieren, wenn Mamma Carlotta sich in seine Arbeit
einmischte. Sie musste einen anderen Weg finden, ihn auf die richtige Spur zu
bringen. Aber welchen? Carolin klatschte in die Hände und kündigte eine Pause
von einer Viertelstunde an. Sie sah ihre Nonna mit groÃen Augen an, wartete auf
Lob, auf Anerkennung, auf die Zusicherung, dass sie die Probe hervorragend
geleitet hatte, aber noch immer war Mamma Carlotta nicht imstande, ihr zu
geben, was sie brauchte. Mit einer hastigen Geste gab sie Carolin zu verstehen,
dass sie dringend die Toilette aufsuchen müsse, und lief aus dem Probenraum.
Sie brauchte Ruhe! Sie musste zwei, drei Minuten ungestört nachdenken.
Die schöne Susanna Larsen war eine Mörderin! Und Erik glaubte nach
wie vor, Utta Ingwersen sei von Francescos Leuten umgebracht worden, um den
Wünschen einer mafiösen Vereinigung Nachdruck zu verleihen, die gar keine war.
Wenn sie ihm nicht half, würde er in ein paar Wochen noch auf der falschen
Fährte
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