Tod im Dünengras
einen Shanty, der unbedingt laut gesungen werden musste. Carolin
hatte ihrer Nonna erklärt, dass dieses Lied Optimismus ausstrahlten sollte und
geradeheraus, natürlich und frisch über die Lippen zu kommen hatte. Also legte
Carlotta ihren gesamten Optimismus in ihre Stimme und sang so frisch, natürlich
und laut, dass es selbst bei geschlossenen Fenstern im ganzen Süder Wung zu
hören war.
Felix behauptete mehrmals, die Nachbarn hätten sich über den Lärm
beschwert, aber nachdem jede dieser Verlautbarungen als plumper Versuch
entlarvt worden war, eine künstlerische Darbietung zu unterbrechen, reagierten
weder Mamma Carlotta noch Carolin mehr darauf. Gegen das Gebrüll von Metallica
kamen sie ohne Weiteres an, weil Felix vorsichtiger geworden war, nachdem ihm
am Tag zuvor ein Lautsprecher seiner Stereoanlage durchgeknallt war.
Wenige Minuten später flog die Haustür donnernd ins
Schloss. Die beiden Sängerinnen überzeugten sich mit einem Blick aus dem Fenster
davon, dass Felix keinen terroristischen Anschlag plante und wohl auch keine
Selbstmordabsichten hegte, sondern vor ihren Sangeskünsten kapituliert hatte.
Er trug sein Trikot, hatte einen Lederball auf den Gepäckträger seines
Fahrrades geklemmt und floh vor dem Gesang zum FuÃballplatz.
»Va bene«, sagte seine GroÃmutter.
Das war der Moment, in dem ihnen das Telefonklingeln auffiel. Mamma
Carlotta hastete zum Apparat und nahm den Hörer ab. »Pronto!«
»Endlich«, sagte Erik. »Ich wollte schon wieder auflegen.«
»Carolin und ich waren sehr beschäftigt.«
»Mit Kochen?«, fragte Erik hoffnungsvoll.
»Ja, ja ⦠das natürlich auch.«
»Was gibtâs heute Abend?«
»Eine ⦠Minestrone vielleicht?«
Es entstand eine Pause. Anscheinend nahm Erik an, seine
Schwiegermutter stünde am Anfang einer längeren Aufzählung. Aber als sie
schwieg, sagte er schnell: »Wunderbar! Deine Minestrone ist ja unvergleichlich.
Vielleicht noch ⦠ein paar selbst gebackene Panini?«
»Scusi, Enrico! Aber du hast wohl die Chorprobe heute Abend
vergessen. Ich werde frisches Brot vom Bäcker holen. Va bene?«
»Natürlich!« Erik lachte ein wenig verkniffen. »Unser Bäcker hat
gutes Brot. Soll ich auf dem Nachhauseweg welches besorgen?«
»Nicht nötig, Enrico! Ich habe dem Bäcker versprochen, heute noch
selbst vorbeizukommen. Er will mir ein Rezept von seiner Schwägerin geben, die
in der Türkei lebt. Couscous-Salat! Er behauptet, er schmecke wunderbar!«
Erik schien darüber nachzudenken, ob sie wirklich von dem Bäcker
redete, an den er dachte, da fragte Mamma Carlotta: »Hast du angerufen, um mich
nach dem Abendessen zu fragen?«
Erik schrak zusammen. »Natürlich nicht. Ich rufe an, um dich zu
beruhigen. Die Meldung, dass Sylt von der Mafia heimgesucht wird, war falsch.
Eine Ente. Ein Irrtum.«
Wenn Erik auf einen Ausruf der Erleichterung gehofft hatte, wurde er
enttäuscht. Nach längerem Schweigen brachte Carlotta mühsam ein »Davvero?«
heraus. Sie konnte nicht glauben, was ihr Schwiegersohn sagte, so schön es auch
klang. Wenn die beiden Kerle, die Fietje nachts am Strand beobachtet hatte,
nicht zur Mafia gehörten, warum wollte Tove dann verhindern, dass man sie
festnahm? War es ihm wirklich nur um Fietje und seinen Job gegangen? Mamma
Carlotta hätte es gerne geglaubt, aber es gelang ihr nicht.
Voll schwerer Gedanken legte sie nach ein paar Abschiedsworten auf
und hörte so nicht mehr, wie Erik seinen Assistenten fragte: »Wussten Sie, dass
unser Bäcker eine Schwägerin hat, die in der Türkei lebt?«
Sören zuckte die Schultern. »Woher sollte ich das wissen?«
»Meine Schwiegermutter weià es.«
Mamma Carlotta war wie immer als Erste auf den Beinen. So
war es in Umbrien, und so war es auch auf Sylt. Die ersten zehn Minuten des
Morgens genoss sie sogar die Stille um sich herum, dann aber sehnte sie das
Erwachen der anderen Familienmitglieder herbei, auch das war in Umbrien genauso
wie auf Sylt.
An diesem Morgen allerdings war der Wunsch nicht besonders
ausgeprägt. Das Ende des Alleinseins konnte der Anfang unangenehmer Fragen
sein. Hoffentlich würde Carolin als Erste bei ihr in der Küche erscheinen! Dann
konnte Mamma Carlotta, noch bevor Erik dazukam, in Erfahrung bringen, wie er
auf das späte Heimkommen seiner Schwiegermutter
Weitere Kostenlose Bücher