Tod im Ebbelwei-Express (German Edition)
klar, daß Ferdinand S. inzwischen etwas hatte unternehmen müssen, und da waren ihm nur zwei Möglichkeiten geblieben. Entweder wieder ins Weinfaß fahren oder die Polizei verständigen. Letzteres war eher unwahrscheinlich, da er ja nicht ahnen konnte, in welch heikler Angelegenheit sie unterwegs waren. Herr Schweitzer schalt sich einen Idioten, Ferdinand S. keine Instruktionen für eine Situation wie diese hinterlassen zu haben. Hinterlassen war aber, fand er, nicht ganz der richtige Ausdruck, noch war er nämlich putzmunter und um an Hinterlassenschaften zu denken war es zu früh. Kurz dachte er an ein Testament, das zu schreiben er immer wieder hinausgezögert hatte. Wäre er eines Kulis habhaft gewesen, er hätte sofort damit begonnen. Und während er darüber grübelte, wem was im Falle eines Falles zu vererben sei, glaubte er kurz, hinter einem Schleier nebliger Schwaden eine Idee, oder zumindest den Hauch davon, fassen zu können. Herr Schweitzer schloß die Augen, atmete gleichmäßig, und spürte, wie etwas von ihm Besitz ergriff. Es war, als hätte er sich einen Spliff allerfeinsten afghanischen Dopes aus Nangarhar reingepfiffen. Je weniger er seinen Körper spürte, er sich sozusagen dematerialisierte, desto klarer wurden die Konturen seiner Gedanken. Ganz langsam kristallisierte sich eine Szene heraus, von der er nur wußte, daß er sie nicht selbst erlebt hatte. Allerdings blieb das Gesicht der handelnden Person, so sehr er sich auch Mühe gab, verschwommen. Der Körper hätte ebensogut eine polierte Bowlingkugel auf dem Hals haben können. Herr Schweitzer wollte schon aufgeben, als ihm deuchte, nicht die Person, sondern das, was sie tat, war von außerordentlicher Relevanz. Und dann blickte er plötzlich in das grelle Licht der Erkenntnis. Ein Film in Schwarz-weiß, oder doch Farbe, den er in grauer Vorzeit gesehen hatte. An nichts anderes außer dieser Sequenz konnte er sich erinnern, selbst die restliche Handlung war unter dem Müll des Gedächtnisses verschüttet. Die eine Szene war alles, was von diesem cineastischen Werk geblieben war. Doch die hatte es in sich. Ein Mann war in einem Raum eingesperrt, möbliert, wie Herr Schweitzer glaubte, und es gab vermeintlich keine Möglichkeit zur Flucht. Und trotzdem war es ihm mit einer Toilette als Hilfsmittel gelungen, dieses Gefängnis zu verlassen. Alles, was Herr Schweitzer jetzt noch brauchte, war eine Kordel oder ein Seil. Er hatte weder das eine noch das andere. Schade eigentlich. Trotzdem war er mit einem Schlage euphorisiert. Er war sich sicherer denn je, eine Lösung zu finden. Er mußte nur denken. Denken, denken und nochmals denken.
Im Weinfaß wurde, oh Wunder, Trübsal geblasen. Auch der inzwischen eingetroffene Apfelweinkellner Semmler hatte keinen brauchbaren Vorschlag auf Lager. Marias Handy lag auf dem Tresen, stumm wie ein Fisch. Ein Anruf von Herrn Schweitzer war die einzige Hoffnung, die geblieben war. Als ob das Schicksal hohnlachte, waren die einzigen Gäste Mutter und Tochter, die vor wenigen Stunden erfahren hatten, daß ihr Gatte respektive Vater des erotischen Plaisiers wegen die familiäre Bande zu sprengen beabsichtigte, indem er zu seiner neuen, blutjungen Gespielin zog. Beide flennten Rotz und Wasser und trösteten sich gegenseitig.
Alles Wehklagen half nicht, eine Entscheidung mußte her. Doch war die einstmals so lustige Runde von einer Lethargie ergriffen, wie sie sonst allenfalls auf Begräbnissen spürbar ist. Die anfängliche Lust, mit der man der Mafia den Garaus zu machen gedachte, hatte sich pulverisiert. Mehr noch, einer der Ihrigen war wie vom Erdboden verschluckt, und die Chance, ihn je wiederzusehen, wurde zwar als existent, aber nicht besonders vielversprechend bewertet. Einzig der Umstand, daß Uschi unlängst das Weite gesucht hatte, war von Vorteil, half aber auch nicht unmittelbar. Einjeder spielte mit dem Gedanken, die Polizei zu rufen, doch auszusprechen wagte es keiner, vielleicht wäre es exakt dieser Schritt, der Herrn Schweitzers Leben beendete, wenn dies sowieso nicht schon längst geschehen war.
So war es wieder einmal René, der sagte: „Wir warten bis morgen früh, dann überlassen wir die Sache der Polizei.“ Insgeheim hoffte er auf Widerspruch, denn sollte Simon Schweitzer gerade dadurch umkommen, hätte er sich eine Bürde aufgeladen, die kein Mann tragen kann.
Das Wörtchen Ja kam niemandem über die Lippen, lediglich Maria erahnte Renés Not und nickte mit dem Kopf. Bertha, Ferdinand S.
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