Tod im Jungfernturm
rieselnde Freude. Es gab ihn nicht mehr. Nun konnte sie allein über ihren Körper bestimmen. Sie tastete sich auf dem Boden bis zu der Zinkwanne vor und steckte die Hände in das unbekannte Wasser.
Die kalten, glitschigen Fischkörper glitten aus ihren Händen, als sie versuchte, sie in die Plastiktüte zu stecken. Die scharfen Flossen der Barsche schnitten ihr in die Finger. Barsche und ungefähr zwanzig Heringe, mehr war es nicht. Der Geruch war aufdringlich. Sie wischte sich die Schuppen an ihrem Kleid von den Händen.
Als sie nach Hause radelte, hatte sich der Himmel etwas aufgehellt, obwohl die Wolkendecke dichter geworden war. Der Wind kam aus Südwest. Die Natur war nicht zornig, es lag Versöhnung in der milden Luft. Wilhelm weilte nicht mehr unter den Lebenden. Nun sollte sie wohl trauern. Doch die Trauer folgt, genau wie die Liebe, ihren eigenen Gesetzen.
5
Sie konnte noch zwei Stunden Schlaf erhaschen, ehe es an der Zeit war, wieder aufzustehen und ins Pflegeheim Mariagården zu fahren. Dann würde sie es gerade noch schaffen, die Kühe zu versorgen, Anselm in den Rollstuhl zu setzen und ihm Frühstück zu machen. Der Gedanke, sich krank zu melden, war unglaublich verlockend, doch sie sah ein, wie ungeschickt das wäre. Mona Jacobsson, die seit der Grippe vor vier Jahren keinen einzigen Tag krank gewesen war, fehlt an dem Tag, an dem ihr Mann verschwindet. Das würde auf jeden Fall Verdacht erregen. In ihrem Kopf hämmerte der Schmerz trotz Tabletten. Aber sie wagte nicht, mehr von Anselms Wodka zu trinken, obwohl sie beschlossen hatte, um sechs Uhr mit dem Bus in die Stadt zu fahren. Irgendwann merkte der Alte, daß Wasser in der Flasche war. Das wußte sie, seit sie versucht hatte, die Schläge, die er in seiner Trunkenheit austeilte, abzumildern.
Die Dämmerung bahnte sich ihren Weg durch Wände und Rollos und störte sie, obwohl sie die Augen schloß. Oben hustete Anselm. Normalerweise war es Wilhelm, der mit seinem trockenen Husten den Nachtschlaf zerhackte. Er hätte damit mal zum Arzt gehen sollen. Unten auf der Straße war ein Auto zu hören. Mona fragte sich, wer das wohl sein konnte. Beim Einschlafen irrten ihre Gedanken in unruhigen Mustern hin und her, doch die Angst vor Entdeckung und Strafe riß sie immer wieder an die Oberfläche. Wieder und wieder mußte sie sich selbst trösten und ihre Arme streicheln, bis der Schlaf mit seinen eigenen Bildern von der Wirklichkeit sie aufnahm.
Sie wanderte im Nebel übers Moor, die Füße sanken ihr ein, und die Schuhe füllten sich mit Moorwasser. Der Geruch von stehendem Wasser, feuchter Erde und Gagelstrauch stieg vom Boden auf. Sie trug einen Stein in ihrem Rock, der sie immer tiefer in die Erde drückte. Es war ihr nicht erlaubt, den Stein wegzulegen. Jeder Schritt war mühsam. Die Muskeln in den Waden brannten vor Milchsäure. Der Stein, den sie im Schoß trug, stammte von dem Steinhaufen im Wald. Von der Grube, wo Menschen, die das Böse auf Abstand halten wollten, jahrhundertelang Stein auf Stein gehäuft hatten. Verdammnis und ewiges Unglück trifft den, der Steine von dem Haufen nimmt! hatte die Schlange geflüstert und ihr schuppiges Haupt erhoben, so daß sie sehen konnte, wie unter den eiskalten Augen die Zunge spielte.
Wilhelms Seele schwebte über dem Moor, suchte sie im Nebel. Kein schützender Baum, soweit das Auge reichte, kein Ort, an dem sich verstecken könnte. Sie verspürte die Witterung seines Zorns in den Nasenlöchern, einen säuerlichen, alkoholgeschwängerten Gestank, der immer dichter wurde, und sie stolperte auf den Wald zu, um ein Versteck zu finden. Der Boden griff saugend nach ihren Knöcheln und hielt sie fest. Sie versuchte aufzustehen und von Grasbüschel zu Grasbüschel zu springen, aber mit jedem Fehltritt sank sie noch tiefer in den sandigen Boden ein. Die Baumkronen konnte sie nur weit entfernt als schwarze ausgestreckte Arme ahnen. Komm zu uns, beeil dich. Komm schnell!
Die Stimme seines Zorns war über ihr. Seine Beschuldigungen donnerten wie eine Ohrfeige übers Moor, wie ein Brand über vergilbtem Gras. Ein Feuerball rollte in schrecklicher Wut auf sie zu. Sie machte kehrt und rannte, sank mit den Beinen ein und fiel der Länge nach hin. Der sumpfige Boden schloß sich um ihr Gesicht. Jetzt war er ganz nah. Jetzt hörte sie seine Schritte auf den Grasbüscheln, den platschenden Laut der Stiefel. Wehe dem, der einen Stein vom Hügel nimmt! Wehe! Wehe! Sie versuchte aufzustehen und sank bis zu den Knien
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