Tod im Jungfernturm
über vieles andere konnte er ewig lange Vorträge halten, bei denen er ihre volle Aufmerksamkeit verlangte. Nie wieder würde sie mit der Milchpackung in der Hand auf dem Weg zum Kühlschrank von seiner eintönigen Stimme festgenagelt werden. Sieh mich an, wenn ich mit dir rede! Es wurde keine Antwort von ihr erwartet, sie sollte nur zustimmend nicken oder den Kopf schütteln. Und gnade ihr Gott, wenn sie einen Fehler machte. Wie in dem Spiel »Alle Vögel fliegen hoch« war hier ihre volle Aufmerksamkeit gefragt. Ein Ja an der falschen Stelle, und die Vortragszeit würde sich verdoppeln. Zurück auf Los.
Die graugestreifte Katze rieb sich verschmust an ihrem nackten Bein, als ein Telefonklingeln die Stille der Küche durchschnitt. Sie wollte gerade die Milchschale abstellen und vergoß vor Schreck die Milch über ihre nackten Füße. Die Polizei? Nein, noch nicht. Aber wenn … wenn man ihn schon in dem Steinhügel gefunden hatte. Ihr Herz raste, die Schläge brausten in den Ohren. Der Ton, der sich ständig aufdrängende Ton in ihrem Kopf wurde lauter und übertönte das Telefonklingeln. Mit einer kraftlosen Hand nahm sie den Hörer ab.
»Mona Jacobsson.«
»Die Lederjacke, du mußt sie verschwinden lassen«, sagte er. Und dann war das Gespräch unterbrochen.
Die Kälte in seiner Stimme erschreckte sie mehr als alles andere. Wann hatte sie die zum ersten Mal bemerkt? Sie wußte es nicht mehr. Eine völlige Abwesenheit von Mitgefühl, sie war meist gut verborgen, aber in den Momenten, in denen sie zutage trat, ließ sie sie erbeben. Das war ein Zustand, in dem er für nichts und niemanden erreichbar war. Trotzdem liebte sie ihn. Würde es ihm je möglich sein, ihre Verzweiflung zu verstehen? Konnte er wenigstens sich selbst lieben?
Jetzt hätte Wilhelm die Lederjacke vom Haken im Flur genommen. Ganz gleich, wie warm es draußen war, wenn man aufs Festland fuhr, brauchte man eine Lederjacke, um respekteinflößend zu wirken. Mona kam es so vor, als schaue das schwarze Lederstück sie vorwurfsvoll an. Die Brieftasche mit der Fahrkarte hatte er in der Hosentasche gehabt. Was sollte sie nur mit der Lederjacke machen? An den Ellenbogen war sie abgewetzt, und er hatte schon davon gesprochen, sich eine neue zu kaufen. Vielleicht hatte er das ja auf dem Festland tun wollen. Konnte sie das behaupten? Nein, das würde niemand glauben, wo er doch beim Lederhändler in der Stadt Rabatt bekommen konnte. In der Hinsicht war Wilhelm loyal.
Wohin sollte sie nur mit dem Ding? Wo sollte sie die Jacke verstecken, daß zu ihren Lebzeiten niemand sie fand? Konnte man sie eingraben? Nein, denn jetzt war hellichter Tag, aber sie wagte auch nicht, sie noch länger im Flur hängen zu lassen. Damit hatte er recht. Schließlich konnte die Polizei kommen, oder irgendein Nachbar.
Da mußte sie an den Misthaufen denken. Die Zementplatte taugte nichts mehr, weil die Typen von der EU mit neuen Vorschriften gekommen waren und sie auf dem Hof einen neuen Misthaufen anlegen mußten. Sie hatte keine Ahnung, woher Wilhelm das Geld gehabt hatte. Aber die Entmistungsanlage hatte ihre Vorteile. Ein paar Monate da drin, und die Lederjacke würde verbrannt sein. Ein Handvoll Mulch, nicht mehr. So war es jedenfalls mit der Katze gewesen, die hineingefallen war. Drei Monate später hatten sie das Skelett gefunden. Mona hatte eine Idee und holte die Schere aus der Küche. Erst schnitt sie den Kragen ab, dann die Ärmel. Das Wichtigste war, das Synthetikfutter und die Plastikknöpfe zu entfernen. Diese Dinge mußte sie in den normalen Müll tun. Sie konnte sie mitnehmen und bei der Arbeit entsorgen, dann wäre das Risiko, entdeckt zu werden, minimal.
Es gab ihr ein Gefühl der Befriedigung, mit der scharfen Schere durch das zerschlissene Leder zu fahren. Wenn er sie jetzt sehen könnte. Wenn er sie jetzt wirklich sehen konnte. Woran merkt man das? Woran merkt man, daß man von der anderen Seite beobachtet wird? Vielleicht saß er wie immer auf dem Küchenstuhl, wenn auch seine Leiche unter dem Steinhaufen lag. Vielleicht brüllte er aus vollem Halse, während sie die Jacke auseinanderschnitt, und sie konnte seine Stimme nur nicht hören. Es war einfach eine andere Frequenz, ein hoher Ton, den nur Katzen und Hunde hören können.
Schaudernd steckte sie die Lederstücke in einen Plastikeimer, legte ein paar Mohrrübenschalen obenauf und ging hinaus. Sie ging um den Bagger herum, der auf dem Hügel hinter dem Schuppen stand. Ganz vorsichtig hatte sie im
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