Tod im Jungfernturm
ein, packte das Gras mit den Händen und zog ein Bein nach dem anderen hoch. Mona, Mooona! Sie kroch mit den Händen über dem Kopf weiter. Er hatte sie gefunden, und jetzt gab es keinen Grund zu warten. Eine eiskalte Hand packte ihr Handgelenk. Sie verspürte einen pochenden Schmerz. Mona. Mooona! Das ganze Bein explodierte, und sie wachte voller Schmerzen auf. Sie warf die Decke beiseite, um nach ihrem Bein zu sehen. Ein blauer Fleck, so groß wie die Handfläche eines Mannes, verlief vom Knöchel zur Wade. Mona. Mooona! Man konnte deutlich die Stelle sehen, wo starke Finger sich um die Haut geklammert hatten. Wilhelms Finger. Das Bein war dick und blau meliert. Die Schlange!
»Mooona!« Vaters Stimme von oben. Mühsam stieg sie aus dem Bett und stützte sich auf dem Weg in den Flur an der Wand ab. Die Übelkeit schwappte im Hals.
»Mooona!«
Mit der Hand am Treppengeländer zog sie sich die Treppe hinauf.
»Ich komme!«
»Soll man hier liegen und verbluten?«
Sie machte das Licht an und zuckte beim Anblick von Anselm blutigem Gesicht zusammen.
»Ich hab Nasenbluten. Aber das schert dich kein bißchen, nich? Hier muß man liegen, bis man in seinem eignen Blut vergeht.«
Sie sah mit wachsender Verzweiflung auf seine Finger, die bis zu den Knöcheln blutig waren. So ist es, wenn einem langweilig ist, die Stunden in der Dämmerung sind dann immer die schlimmsten. Es war nicht das erste Mal, daß er sich aus mangelnder Anregung selbst Nasenbluten zugefügt hatte. Genauso war es mit dem ständigen Übergeben bei den Zwillingen gewesen. Beim Kinderarzt hatte man es »habituelles Erbrechen« genannt, ein gewohnheitsmäßiges Spucken, das durch Langeweile und Übersättigung hervorgerufen wurde. Auf den Begriff habituelles Nasenbluten war sie noch nie gestoßen, doch das gab es ganz ohne Zweifel. Mona holte tief Luft und drückte seine rotgeschwollene Nase zu.
»Hast du Kaffee aufgesetzt?«
»Nein.«
»Es muß aber jetzt an der Zeit sein! Ich hab Wilhelm gar nicht fahren hören. Hab ja gedacht, daß er mir nen Kaffee bringt, aber dazu war wohl keine Zeit. Ist ja wohl so scheißwichtig mit der Feldübung aufm Festland, daß ihm der Hintern gebrannt hat.«
»Bleib ruhig. Sobald es aufhört zu bluten, mache ich dir einen Kaffee.«
»Hat Wilhelm die Zeitung reingeholt?«
»Ich schau gleich nach.«
»Und dann will ich Hilfe mit der Pinkelflasche, sonst passiert noch’n Unglück. Und dann zieh das Rollo hoch, damit man sehen kann, daß ich wach bin. Und mach das Radio an, verdammt! Ich muß den Seewetterbericht hören.«
Glückliche Menschen, deren Dämmerungsqualen mit heißem Kaffee und der monotonen Stimme des Seewetterberichts gemildert werden konnten. Anselm fand Sicherheit darin, dieselbe Geschichte wieder und wieder zu hören. Alles ist wie immer, es ist nichts geschehen.
Wenn alles wie immer gewesen wäre, dann hätte Wilhelm, ehe er fuhr, gefrühstückt und die Zeitung gelesen. Aus alter Gewohnheit goß Mona Kaffee in seine abgenutzte Tasse und stellte sie an seinen Platz am Fenster. Dann bemerkte sie schaudernd, was sie getan hatte. Sie drehte das Radio an. Gleich würde der Seewetterbericht kommen. Wenn Wilhelm zu Hause gewesen wäre, dann hätte er ihn gehört. Und Gott gnade dem, der dann nicht klug genug war, den Mund zu halten. Fast andächtig horchte sie auf die Worte, die in Stereo gleichzeitig aus dem ersten Stock und aus dem Transistorradio in der Küche kamen: Anholt Nord und Gotländische Sandinsel, mäßige bis frische Brise, auffrischender Wind aus West. Im Tagesverlauf niederschlagsfrei, gegen Abend vereinzelte Schauer, morgen klar bis bewölkt. Sie hätte selbst keine würdevollere Rede zu seinem Gedenken halten können. Das waren schönere Worte, als er verdient hatte. Almagrund und Nordspitze von Öland, das klang wie eine uralte Messe.
Als die Feierstunde vorüber war, goß sie seinen Kaffee in den Ausguß. Wilhelm pflegte die Tasse immer nach rechts ins Fenster zu stellen, um dann noch einen Kaffee zu trinken, wenn es Zeit für den »Zehnuhr« war. Jetzt wäre er aufgestanden und hätte sich die Krümel von der Hose und vom braunkarierten Wachstuch auf den Boden gebürstet. Ein schneller Blick auf die Uhr. Er wäre gerade rechtzeitig zur Gotlandfähre gekommen. Die Regel, daß man fünfundvierzig Minuten vorher kommen muß, galt seiner Meinung nach nur für Touristen. Ehrlich arbeitende Menschen sollten keine kostbare Zeit mit dem Anstehen an der Fähre verbringen. Darüber und
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