Tod im Jungfernturm
Jahren in der Branche hat man kaum noch Illusionen«, sagte Arvidsson und machte einen Ansatz, vom Tisch aufzustehen. »Ich hatte mir ja ein Höhlenabenteuer vorgenommen, aber die touristischen Unternehmungen muß ich wohl auf später verschieben. Zum Glück habe ich noch keine Tickets gekauft. Jetzt wird es wohl noch eine Weile dauern.«
Wenn man mehr als zwanzig Jahre zusammengelebt hat, dann spürt man, wenn etwas dabei ist, schief zu gehen. Trygvesson hatte dieses Gefühl den ganzen Tag wie einen anhaltenden Schmerz in sich getragen. Er hatte gesehen, wie Hartman angesichts seiner fehlenden Initiative und Konzentration die Augenbrauen hochgezogen hatte. Verärgert hatte er den Auszubildenden am Empfang angefahren, der ihn durch seine sorgfältig und zurückhaltend gestellte Frage nach dem Außendienst in Rage gebracht hatte. Als Trygvesson daran dachte, schämte er sich. Er hatte den Auszubildenden aus reiner Bosheit angewiesen, sich um den Fahrradkeller zu kümmern. Bestimmt würde der sich bei den anderen beschweren und dabei auch Rückhalt bekommen. Trygvesson ist ein Scheißkerl, ein alter Sack, der in Rente gehen sollte. Das hätte nicht sein müssen.
Lillemor hatte ihn verlassen, nur der Zeitpunkt für die Aufteilung ihres gemeinsamen Besitzstandes war ungewiß. Man kann nicht unbegrenzt lange in Schweigen leben, ohne daß es Probleme gibt. Als er aufwachte und den Armreif und den Ehering auf dem Küchentisch liegen sah, war er eigentlich nicht erstaunt gewesen. Er hatte mit so etwas schon gerechnet. Im Grunde war er richtig erleichtert. Sie hatte gesprochen, hatte wortlos ihre Meinung gesagt und auf den Küchentisch gelegt. So will ich leben. Aber sie war nicht dageblieben, um seine Antwort abzuwarten. Vielleicht war das auch ganz gut so. Trotzdem hatte er nicht wieder einschlafen können. Das Bett neben ihm war so gähnend leer gewesen. Wider besseres Wissen hatte er auf einen Schlüssel in der Tür gehorcht, auf Schritte, die niemals kamen. Als die Morgendämmerung durch die Jalousien drang, war er immer noch nicht eingeschlafen. Und da war es Zeit für einen neuen Arbeitstag gewesen.
31
»Würde mich nicht wundern, wenn einer der Söhne den Alten erschlagen hätte. Da gibt es sicher einiges heimzuzahlen«, sagte Arvidsson, als sie vor dem Supermarkt in Klinte anhielten, weil Ek sich ein Paar sauberer Socken kaufen mußte.
»Kindesmißhandlung hat es zu allen Zeiten gegeben, aber muß sie zwangsläufig auch in Mord und Totschlag enden? Das glaube ich eigentlich nicht«, erwiderte Ek.
»Weiß nicht. Vielleicht gehen solche Leute nicht unbedingt auf ihre Väter los, aber sie sind eher bereit, Konflikte durch Gewalt zu lösen.«
»War das nicht schon immer so?«
»Ich glaube, von Kindesmißhandlung spricht man erst, seit man das Skelett eines Menschen mit Röntgen untersuchen kann. In den vierziger Jahren analysierte ein Arzt namens Caffey zusammen mit seinem Kollegen Arm- und Beinbrüche und Blutergüsse unter der Hirnhaut bei Kindern. Die Frakturen hatten unterschiedliche Heilungsstadien. Gleichzeitig konnte man Syphilis, Skorbut und Rachitis ausschließen. Man glaubte, eine neue Krankheit entdeckt zu haben: das Caffey-Syndrom. Die Kinder waren blaß und unterernährt, litten an Fieber und Blutarmut. Erstaunlicherweise verbesserte sich der Zustand der Patienten, während sie im Krankenhaus lagen, doch gingen sie dann wieder nach Hause, kamen sie bald im selben oder noch schlechteren Zustand zurück. Erst in den fünfziger Jahren gestand man sich ein, daß es regelrechte Mißhandlung sein mußte, und nicht irgendeine rätselhafte Krankheit.«
»Seltsam, daß die Kinder nicht erzählt haben, was eigentlich los war.«
»Sie haben sich wohl nicht getraut, und es wurde ihnen nicht geglaubt. Es ist sehr unangenehm, die Wahrheit anzuerkennen, vor allem wenn sie verlangt, daß man Stellung bezieht und etwas dagegen unternimmt.«
Nachdem Ek sich für ein Paar Socken mit Elchen und eines mit Kaninchen entschieden hatte, setzten sie ihre Fahrt nach Eksta fort.
Der Himmel war zum Abend hin langsam aufgeklart, und das Wasser, das sich in den Löchern im Asphalt gesammelt hatte, leuchtete rosa in den warmen Strahlen der Abendsonne. Der Sonnenuntergang war in seinem Farbenspiel so außerordentlich schön, daß er für den ganzen grauen Tag entschädigte, meinte Arvidsson.
»Vielleicht ist er ja ausgeflogen«, sagte Ek, als sie bei Henrik Dune geklopft hatten. Im Haus war es dunkel, aber sowohl der Bagger
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