Tod im Koog - Hinterm-Deich-Krimi
erfuhr, dass
Dreschnitzki heute für den Transport nach Darmstadt vorgesehen war. Es gehörte
zu den schwer verständlichen Absonderlichkeiten, dass das Verbringen eines
Häftlings oder Untersuchungshäftlings im schlimmsten Fall bis zu zwei Wochen dauern
konnte, bevor er am Zielort eintraf.
Er las die Notizen und Berichte der neu eingetroffenen Fälle und
stutzte. Es hatte einen gewalttätigen Übergriff auf einen Husumer Facharzt
gegeben. Als Täter war ein dreiundfünfzigjähriger Mann vorübergehend festgenommen
worden, der die Tat sofort zugegeben hatte. Der Täter hatte sich geärgert, dass
er, trotz eines aus seiner Sicht akuten medizinischen Notfalls, in der Praxis
erst seine Krankenversicherung nennen musste, um dann zu hören, dass man ihn
nicht als Patienten annehmen wollte. Leider waren das Fälle, die sich
mittlerweile häuften, und Husum war, das wusste auch Christoph, kein gutes
Pflaster für Menschen, die auf ärztliche Hilfe durch bestimmte Fachärzte
angewiesen waren. Wer in dieser Region lebte, tat besser daran, gesund zu
bleiben, dachte Christoph. Das hatte auch der Täter empfunden und seinen Unmut
durch unzulässige Gewalt gegen den Mediziner kundgetan, indem er über den Arzt
hergefallen war und ihn bedroht und geschlagen hatte. Das war ein Fall für
Große Jäger, überlegte Christoph, selbst wenn der Oberkommissar bei genauem
Studium des Falles möglicherweise ein wenig … Doch darauf wollte Christoph
achtgeben.
Er studierte noch einmal akribisch die Protokolle und suchte nach
Dingen, bei denen sie etwas übersehen oder vergessen hatten. Er wartete
dringend auf die Laborergebnisse aus Kiel. Für einen Moment sah er vom
Aktendeckel auf und überlegte, welcher Wandel sich in den fast vierzig Jahren
vollzogen hatte, die er bald bei der Polizei war. In den Anfängen hatte er sich
an mechanischen Schreibmaschinen mit den Protokollen herumschlagen müssen.
Mühsam hatten die Beamten die Texte mit zwei Fingern in die Maschine gehackt,
sorgfältig darauf bedacht, Tippfehler zu vermeiden. Für jeden falschen Anschlag
wurde man gnadenlos bestraft, daher galt es, nicht nur das Original, sondern
auch die immer wieder verrutschenden Durchschläge zu korrigieren. Irgendwo auf
der Dienststelle stand damals ein Nasskopierer, den man aber nicht benutzen
durfte. Das Fahndungsregister war in Karteikarten untergebracht, und Methoden
wie einen DNA -Abgleich kannte man nicht.
Er schreckte hoch, als sich sein Telefon meldete. Es war ein Beamter
des Landeskriminalamts.
»Wir haben hier die Auswertung einer DNA bekommen. Im Begleittext steht, dass es eine Anforderung von der Dienststelle
Husum an der Ostsee ist.«
»Ostsee?«
»Ja, steht hier.«
Christoph schmunzelte. »Kommt das aus Bayern?«
»Nein«, erlaubte sich der Kieler Kollege einen Scherz. »Aus
Nürnberg.«
»Mirko Dreschnitzki«, riet Christoph. Nachdem der Kieler es
bestätigt hatte, fuhr Christoph fort: »Können Sie das auf Übereinstimmung mit
der DNA der Geschädigten Elena Petrescu und der
Geschädigten Heike Bunge abgleichen?«
Der Beamte aus dem LKA versprach es.
Christoph suchte die Adresse von Ben-Reiner Graf aus Breklum heraus.
Er hatte Glück. Herr Graf war zu Hause.
Die Bundesstraße führte hinter Husum durch die Hattstedter Marsch,
parallel zur Marschenbahn, die Hamburg mit Westerland verband. Wie mit dem
Lineal gezogen ging die Straße geradeaus, bis auf eine einzige leichte Kurve.
Das war weniger spektakulär als die Eisenbahn, die Westaustralien mit dem Osten
verband und wo alle Fahrgäste auf »das« Ereignis warteten: die erste sanfte
Kurve nach achthundert Kilometern Fahrt. Christoph sah nach links. Dort standen
dicht an dicht Windkraftanlagen.
Ortsfremden schien es, als würden die ineinander übergehenden Orte
Struckum, Breklum und Bredstedt nie aufhören. Christoph bog am Möbelhaus ab,
unterquerte die Bahn und gelangte in die »Küstersmeede«, eine ruhige und in
leichten Kurven verlaufende Wohnstraße. Unweit lag das Christian Jensen Kolleg,
eine Tagungs- und Bildungseinrichtung der nordelbischen Kirche, deren
historisches Gebäude unlängst einer Brandstiftung zum Opfer gefallen war.
Christoph hatte sein Auto noch nicht abgeschlossen, als sich die Tür
des Einfamilienhauses öffnete und ein Mann mit einem Kind auf dem Arm erschien.
»Haben wir vorhin miteinander telefoniert?«, fragte er, während das
kleine Mädchen an seinem schmalen Bart zupfte, der an den Wangen hinablief und
den Mund umschloss.
Er bat
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