Tod im Palazzo
Irgendwie, ohne es begründen zu können, war der Wachtmeister überzeugt, daß sie als Kind die Nägel gekaut hatte. Allerdings hatte sie deutlich zu erkennen gegeben, daß sie ein ängstlicher Mensch war. So sanft wie möglich hakte er nach.
»Können Sie mir mehr über diesen Krach erzählen, über diesen Streit? Können Sie hier tatsächlich hören, was dort unten gesagt wird?«
»Nein, keineswegs. Sie können sich vorstellen, wie dick die Wände und Decken hier sind. Nein, sie haben sich bloß gestritten – und als sie aufgehört hatten, fuhr irgend jemand, ich vermute er, mit dem Lift hinunter. Der Lift ist in meiner Erinnerung das letzte, was ich gehört habe, also muß ich in dem Moment eingeschlafen sein. Es ist schrecklich, wenn man darüber nachdenkt, nicht wahr? Ich habe einen Menschen gehört, der überhaupt keine Hoffnung mehr hatte, der hinunterfuhr, um sich zu erschießen, und dann habe ich mich umgedreht und bin eingeschlafen.«
»Aber Sie haben doch nichts davon gewußt«, wandte der Wachtmeister ein.
»Ich weiß. Ich meine nur, es ist so verrückt. Wir leben so nahe beieinander und könnten genausogut meilenweit entfernt voneinander leben, so wenig können wir einander helfen. Ich habe ihn nicht sehr gut gekannt, aber er war mir sympathisch. Er hatte traurige Augen… Er sah aus, als hätte er ein Herz, wissen Sie. Und ein Mann mit Herz, der mit einer solchen Frau zusammenlebt…«
»Er hat sie geheiratet«, sagte der Wachtmeister.
»Die Leute heiraten eben. Sie ist eine sehr schöne Frau, noch immer. Stellen Sie sich mal vor, wie sie vor zwanzig Jahren ausgesehen haben muß. Außerdem ist sie sexy, das ist wieder etwas anderes. Männern gefällt sie. Sie haben sie bestimmt schon kennengelernt.«
»Ich… ja.«
Das einzige Gefühl, woran er sich erinnern konnte, war Angst. Das konnte er schlecht gestehen.
»Dann wissen Sie ja, was ich meine. Ich bin sicher, daß sie Hugh gefällt. Hugh Fido, der Maler nebenan. Sie hat ein Porträt bei ihm bestellt. Als Mann wird er natürlich nicht so schlecht behandelt wie ich, und das gilt wahrscheinlich auch für Emilio. Haben Sie Emilio kennengelernt? Den Pianisten?«
»Gestern.«
»Und natürlich sind die beiden Künstler, was vielleicht erklärt, warum sie von ihr akzeptiert werden… Jedenfalls, Catherine und ich werden wahrscheinlich am übelsten behandelt, obwohl Catherine sogar einmal zum Tee eingeladen wurde… Mir fällt gerade etwas ein!«
»Ja?«
Der Wachtmeister griff zu seinem Notizbuch.
»Nein, nein, Entschuldigung, es hat nichts damit zu tun. Es ist verrückt. Ich wäre nie darauf gekommen, wenn ich nicht mit Ihnen gesprochen hätte. Wissen Sie, was es ist? Hugh ist ihr Hofmaler. Emilio ihr Hofmusiker, und Catherine – also Catherine Yorke, sie ist Restauratorin, hat ein kleines Atelier, das auf den Hof geht – arbeitet im Auftrag der Marchesa an den Büchern, die bei der Hochwasserkatastrophe beschädigt wurden, Bücher und Dokumente und Pläne des Hauses und so weiter. Begreifen Sie nicht?«
»Nein… Nicht so richtig.«
»Es ist doch sonnenklar. Sie kann über die Tatsache hinwegsehen, daß sie Miete zahlen, und sie in Gedanken in ihr Feudalsystem einbeziehen. Ich bin die Außenseiterin! Für meine Anwesenheit hier gibt es keine andere Rechtfertigung als die, daß ich Miete zahle. Ich passe nicht hinein.«
»Ich glaube, ich verstehe. Aber Sie sind doch Ärztin, wenn sie also wollte…«
»Meine Güte, das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Ich bin für sie eine viel zu unbedeutende Ärztin. Aber der Gedanke ist nicht so abwegig. Wäre ich tatsächlich prominent genug, dann würde das ihr Problem lösen. Jedenfalls würde sie nicht jemanden wie mich rufen lassen, wenn ihre Putzfrau eine Erkältung hat. Sie sollten mal die Heerscharen von Spezialisten sehen, die sich alle sechs Monate ihren Sohn vornehmen. Nur ein einziger Italiener dabei. Zwei sind aus London, der Rest kommt aus der Schweiz.«
»Was fehlt ihm eigentlich genau?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nie gesehen. Ich habe nie jemanden von einer Krankheit reden hören, also könnte es auch einfach eine Frage von neunhundert Jahren Inzucht sein.«
»Sie meinen, er ist vielleicht nicht ganz richtig im Kopf?«
Sie lächelte ihn an. Nun, da sie über medizinische und nicht über persönliche Dinge sprachen, war ihr Gesicht wieder entspannt und schön. »Ein Arzt würde sich nicht so ausdrücken.«
»Entschuldigung, ich habe nur gedacht…«
Tatsächlich hatte er
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