Tod im Palazzo
unbeweglich da, um sich zu vergewissern, daß das Zimmer leer war. Es war völlig leer. Er wußte instinktiv, wo er war, noch bevor er ans Fenster trat und hinaussah. Der Hof lag klein unter ihm. Er befand sich im Turm, wenngleich nicht ganz oben. Die Klaviermusik war schwach zu hören. Man hatte eine gute Sicht vom Eingangstor. Er sah den Portier herauskommen und jemanden einlassen. Eine Frau. Eine ihm unbekannte Person. Nicht, daß es leicht war, von hier oben jemanden zu erkennen – den Portier hätte er kaum erkannt, wenn er ihn nicht aus der Portierswohnung hätte kommen sehen. Die Frau hatte rotes Haar, gehörte also nicht zu den Mietern des Hauses. Sie betrat das Treppenhaus und verschwand aus dem Blickfeld.
Man sieht ihn nie auf der Treppe… Er war ziemlich sicher, daß Flavia Martelli das gesagt hatte, aber über wen und warum, daran konnte er sich nicht mehr erinnern. Diese Norditaliener sprechen so verdammt schnell, daß man nicht immer alles mitbekam. Was soll's, früher oder später würde es ihm schon wieder einfallen. Von hier war nur schwer zu erkennen, wem welche Wohnung gehörte, aber wenn Dr. Martelli verreist war, dann war es sicher die mit den geschlossenen Fensterläden. Und neben ihr… links, wenn er sich recht erinnerte… ja, dort wohnte der Maler. Man konnte mühelos hineinsehen. Wieso war es eigentlich so hell in diesem Zimmer, das zum Innenhof lag und in das selbst im Sommer keine Sonne fiel? Muß eine Art Spezialbeleuchtung sein. Wahrscheinlich malte er gerade. Da war er! Schwenkte mitten im Zimmer so etwas wie ein buntes Laken. Der Wachtmeister hörte deutlich eine Klingel. Erstaunlich! Das muß die Klingel des Malers gewesen sein, denn er ließ das Laken sofort sinken und verschwand. Der Schall bewegte sich natürlich immer nach oben, und in dem geschlossenen Innenhof… Seine Gedanken wurden unterbrochen von dem, was als nächstes passierte. Er sah die rothaarige Frau in das Zimmer des Malers kommen. Dann erschien Fido, der sie von hinten umarmte. Dann trat er zurück. Die Rothaarige zog sich rasch aus und legte sich hin – vor aller Augen deutlich zu sehen.
Nachdem er über den ersten Schock hinweggekommen war, wurde dem Wachtmeister klar, daß die Frau Modell stand. Er wußte, daß es so etwas gab… aber direkt vor dem Fenster? Bei der künstlichen Beleuchtung hätte er die Fensterläden doch sicher schließen können. Vor aller Augen… Aber etwas stimmte nicht, etwas war anders, als er gedacht hatte. Der Wachtmeister sah zu den anderen Fenstern. Etwas war anders. Die Frau wurde auf einer Art niedrigem Podest arrangiert, wohin Fido das bunte Laken geworfen hatte. Die Wohnungen befanden sich in der obersten Etage des Hauptgebäudes. Das einzige Fenster, das so hoch war, daß es den Blick auf die nackte Frau freigab, war dieses.
Ein leises Geräusch hinter ihm ließ ihn zusammenfahren. Erschrocken wandte er sich vom Fenster ab, als fühlte er sich ertappt. Neri stand vor ihm, die Hände fest verschränkt vor dem Körper. Er kam nicht näher, aber der unwillkürliche Blick über die Schulter des Wachtmeisters und das Erröten in seinem Gesicht verriet alles. Oder fast alles.
»Sie waren so freundlich, mich zu besuchen. Pater Benigni hat gesagt… wollen Sie sich nicht setzen?«
Seine Stimme war leise oder vielleicht auch schwach, als wäre er es nicht gewöhnt, mit Menschen zu sprechen. »Setzen Sie sich hierhin? Pater Benigni sitzt immer hier. Es ist bequem. Mein Stuhl steht in der Nähe, und wir können reden.«
Neri hatte einen abgewetzten runden Ledersessel von einem Tisch in der Ecke herbeigeholt und saß nun dem Wachtmeister gegenüber. Dieser registrierte sehr deutlich Neris Größe und Körperfülle und die eigenwillige Kopfhaltung. Er weinte jetzt nicht, obwohl dem Wachtmeister schien, daß er vor nicht allzulanger Zeit geweint haben könnte, denn seine Augen waren zu hell und sein Gesicht war gerötet. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Wie auch. Er war ein Fremder, ein Rätsel, und was wollte er überhaupt? Also schwieg er, und Neri fixierte ihn mit glänzenden, inständig flehenden Augen.
Bringen Sie mich nicht in das Haus zurück… Das waren Corsis Augen, die Augen der Leiche, die loszuwerden ihm einfach nicht gelang, und was immer Neri ihm erzählen mochte, das unangenehme Gefühl in der Magengegend sagte ihm, daß es nichts Schönes sein würde. Wenn er schließlich Worte fand, dann nur, um die peinliche Situation zu überbrücken. Er sah an Neri vorbei
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