Tod im Palazzo
daß es nur ein grausamer Scherz war, um meinem Vater Angst einzujagen. Wir… wir sind uns immer nahe gewesen. Sie ist nie von meiner Seite gewichen, wenn ich krank war, und sie hat mir alles erzählt. Also habe ich gewartet. Dann wurde mir klar, daß sie mich gar nicht sah. Ich stand bei der Tür, genau vor ihr, und sie stand einfach nur da und lächelte und lächelte…«
Neri hob das schmerzerfüllte Gesicht, sah den Wachtmeister an.
»Ich habe so viel darüber nachgedacht und gebetet. Ich habe für ihn gebetet und für das, was er nicht getan hat.«
»Ich verstehe«, sagte der Wachtmeister. »Er wollte Ihre Mutter umbringen, hat es aber nicht getan. Das hat sie uns erzählt.«
»Er kam die Treppe hoch zu mir, Herr Wachtmeister, nicht im Lift. Er kam die Treppe hoch, und erst, als er mich nicht im Bett vorfand, lief er wieder hinunter und ging durch die Tür und fand uns beide. Jetzt, wo Sie mir von Catherines Brief erzählt haben, frage ich mich, ob sie… sie hat an mich gedacht.«
»Sie hat gesagt, daß er an Sie gedacht hat.«
»Wie auch immer, ich habe ihm vergeben für das, was er tun wollte, denn ich kann ihn verstehen. Er muß furchtbare Qualen gelitten haben. Pater Benigni sagt, daß Selbstmord eine Sünde ist wie Mord, und ich weiß, er hat recht, aber Gott wird ihm verzeihen, denn er hat so viel gelitten. Davon bin ich überzeugt.«
»Ist er dann hochgegangen?«
»Ja. Ich glaube… ich glaube, er wollte einfach weg von uns. Ich bin ihm hinterhergelaufen, aber es war zu spät. Er war stärker und schneller, und ich konnte nicht mithalten.«
»Aber Ihre Mutter hätte doch bestimmt…«
»O nein. Sie hat sich nicht von der Stelle gerührt. Als ich wieder hinunterkam, um es ihr zu sagen, stand sie noch immer an derselben Stelle und lächelte. Ich sagte zu ihr, daß er tot ist, und sie meinte nur: ›Geh wieder zu Bett!‹ Ich sagte: ›Ich kann ihn nicht tragen, nicht allein. Wir können ihn nicht da oben liegen lassen. Ich habe ihn von der Brüstung heruntergeholt, aber tragen kann ich ihn nicht. Was soll ich tun?‹ ›Geh wieder in dein Zimmer und wasch dich.‹ Sie lächelte noch immer. Ich hatte das Gefühl, daß sie mich gar nicht sah. Beim Weggehen hörte ich sie mit jemandem telefonieren. Ich vermute, sie ließ meinen Vater in das Jagdzimmer schaffen. Ich habe sie viel später gehört, den Krach auf der Treppe…«
Der Wachtmeister hörte das Heulen einer Sirene. Er ging zum Fenster. Der Krankenwagen fuhr vor. Es entstand große Aufregung, Lärm, Stimmengewirr, Anweisungen, aber alle Geräusche kamen in dieser Höhe nur gedämpft und verzerrt an.
»Ich muß runter.«
»Ich habe seitdem nicht mehr mit ihr gesprochen.«
Neris Gesicht war gefaßt, seine Augen richteten sich auf einen fernen Punkt, den nur er sehen konnte.
»Ich muß hinuntergehen«, wiederholte der Wachtmeister. »Ich werde Grillo hochschicken.«
Als er die Tür erreichte, bemerkte Neri ruhig: »Ich hatte recht, oder? Ich habe gesagt, sie bringen mich am Ende noch dazu, daß ich es tue, und sie haben es geschafft.«
Der Wachtmeister warf einen Blick über die Schulter, zögerte. Neri stand mit dem Rücken zur Tür. Es war nicht klar, ob er mit dem Wachtmeister sprach oder auch nur mit dem Bild, das er von ihm hatte. Jedenfalls drehte er sich nicht um. »Sie war in dieser kleinen Schachtel. Und jetzt habe ich es getan. Ich habe sie kaputtgemacht.«
»Ich werde Grillo hochschicken«, sagte der Wachtmeister wieder, weil er nicht wußte, was er sonst sagen sollte.
Die linke Hand und der linke Arm lagen eingeknickt unter der Leiche, der rechte Arm war ausgestreckt (siehe Foto 1).
Obgleich der Himmelsstreifen noch immer dunkeltürkis war, drang inzwischen kein Licht mehr zum Innenhof. Die Aufregung, die bei der Ankunft des Krankenwagens entstanden war, hatte sich gelegt, die Atmosphäre war gespannt und gedämpft. Der Wachtmeister hatte recht gehabt, was die Journalisten anging. Die Beamten waren noch immer unten im Keller, und wenn sie wieder hochkämen, würde man die Pressevertreter zweifellos davonscheuchen, aber noch standen sie im Säulengang, in der Nähe der Wohnung der tata, und rauchten, um in der Düsternis bei Laune zu bleiben. Sie würden erschrecken, wenn die Alte herauskam und auf sie losging, aber sie hörte nichts, durch ihre Taubheit in ihrer sonderbaren Bilderwelt eingeschlossen.
Er fand Lorenzini mit einem der Sanitäter sprechen und gab Anweisung, den Leichnam mit Rücksicht auf William diskret
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