Tod im Schärengarten
Adern und in ihren Schläfen hämmert es. Schwere, dumpfe Schläge, die ihr in der Stille wie Pistolenschüsse vorkommen.
Ihre Muskeln schmerzen, aber sie zwingt sich zum Weiterlaufen, ohne langsamer zu werden. Die Beine bewegen sich ganz von selbst und mit nur einem einzigen Ziel: den Verfolgern zu entkommen.
Weiter, weiter, treibt sie sich selbst an.
William Aldecrantz schaut auf die Uhr.
Es ist Zeit, die Jagd für den gemeinsamen Lunch mit den anderen Jagdteilnehmern zu unterbrechen. Das Hornsignal, das zur Rast ruft, ist bereits verklungen. Trotzdem harrt er noch auf dem Hochsitz aus. Eben erst ist ein großer Keiler vorbeigekommen, knapp außer Schussweite. Nur ein paar Minuten noch, vielleicht kommt der Keiler zurück.
Er darf nicht zu lange bleiben, das weiß er. Sein Vater hasst es,wenn er zu spät kommt. Immer wieder hat er ihm eingeschärft, wie wichtig es ist, die Anordnungen des Jagdführers zu befolgen. Aber William wünscht sich so sehr, endlich ein Tier zu erlegen.
Er kann direkt vor sich sehen, wie er nächste Woche, wenn der Unterricht wieder beginnt, aufs Lundsberg-Internat zurückkehrt. Wie die Klassenkameraden bewundernd zu ihm aufblicken, wenn er ihnen berichtet, wie er ganz allein ein Wildschwein zur Strecke gebracht hat.
Eine eigene Jagdtrophäe.
Als er zum achtzehnten Geburtstag sein erstes Gewehr bekam, war es das beste Geschenk, das er jemals erhalten hatte. Wie ein Mann hatte er sich gefühlt. Er konnte sich gar nicht sattsehen an der Waffe.
Wenn er den Keiler tatsächlich schießen könnte …
William blickt wieder nervös auf die Uhr. Nein, jetzt muss er seinen Posten verlassen und zum Lunch gehen. Sonst gibt es ein ordentliches Donnerwetter von Papa. Das steht fest.
»In welche Richtung ist sie gelaufen?«, ruft Margit.
Der Wald steht dicht und durch das Unterholz ist kaum etwas zu sehen. Man hört nur das Knacken und Brechen von Zweigen.
Margit hat Thomas eingeholt. Ihr Brustkorb schmerzt vor Anstrengung.
»Still«, flüstert er. »Sonst hören wir nichts.«
Margit erstarrt mitten in der Bewegung und versucht, leise zu atmen. Es rauscht in den Baumkronen.
»Wo ist sie hin?«, fragt sie.
»Schhh«, zischt Thomas.
Er späht zwischen den Baumstämmen hindurch und versucht, etwas zu erkennen. Sie sind inzwischen ein gutes Stück von der Lichtung entfernt.
Aus den Augenwinkeln bemerkt er eine Bewegung im Gebüsch, ungefähr hundertfünfzig Meter weiter vorn. Etwas, das zwischen den Blättern davonhuscht.
»Da ist sie! Komm!«, ruft er Margit zu und beginnt wieder zu laufen.
Isabelle atmet stoßweise und flach. Sie darf die Orientierung nicht verlieren.
»Großer Gott«, betet sie zwischen zusammengebissenen Zähnen, »lass mich hier heil rauskommen, dann werde ich dich nie wieder um etwas bitten. Es kann nicht auf diese Weise enden. Bitte, lieber Gott.«
Tränen der Frustration laufen ihr über die Wangen. Ihre Kiefermuskeln sind angespannt, die Fäuste geballt. Aber sie läuft weiter.
Sie stolpert über eine Baumwurzel und fällt kopfüber hin, schrammt sich Nase und Kinn auf. Schwankend kommt sie auf die Beine und hält sich an einer Birke fest. Ihr ist schwindlig.
Aus einem Nasenloch tropft Blut.
Sie blickt sich um und versucht, ihre Gedanken zu sammeln.
Wenn sie es schafft, über den Bach zu kommen … Nicht weit dahinter ist ein größerer Weg, das weiß sie. Sie muss die Schnellstraße erreichen, nur dann hat sie eine Chance. Es wird ihr schon irgendwie gelingen, ein Auto anzuhalten.
Sie versucht sich zu erinnern, in welcher Richtung der Bach liegt.
Unsicher läuft sie noch hundert Meter weiter und sieht hinter den Bäumen Wasser glitzern. Endlich.
Erleichterung durchflutet sie. Der Bach ist ihre Rettung. Außerdem verliert sich dann ihre Spur. Selbst wenn sie mit Hunden nach ihr suchen, werden sie sie nicht finden. Wasser verwirrt die Tiere und sorgt dafür, dass sie die Witterung verlieren. Wenn sie den Bach hinter sich hat, ist sie in Sicherheit.
Sie läuft weiter durch das dichte Grün, das sie umschließt. Reine Willenskraft zwingt die müden Muskeln, sich weiterhin zu bewegen. Schritt für Schritt. Obwohl alle Kraft längst erschöpft ist.
Der Selbsterhaltungstrieb übernimmt die Kontrolle und die Füße weigern sich, stehen zu bleiben. Ihre Muskeln brennen wie Feuer, aber sie kümmert sich nicht darum.
Sie atmet leichter. Jetzt ist sie gleich da.
Die Sonnenreflexe auf dem Wasser zeigen ihr den Weg.
Sie wird es schaffen.
Ein schwaches
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