Tod im Tal der Heiden
geht, fällt Cashel uns zu, bevor der Sommer herum ist.«
Fidelma fuhr mit einem Ruck auf. Es war eine unwillkürliche Reaktion. Glücklicherweise ging sie in Solins Aufbruch unter. Mit klopfendem Herzen saß Fidelma einen Moment da. An den leisen Schritten konnte sie hören, wie Solin auf Zehen an ihrem Schlafraum vorbeischlich. Sie schwang sich aus dem Bett und zog ihre Kutte und ihre lederbesohlten Schuhe an.
Als sie am oberen Ende der Treppe war, hatte Solin bereits das Gästehaus verlassen, aber sie durfte nicht zu schnell hinunterlaufen, um nicht Bruder Dianach zu alarmieren. Es blieb keine Zeit, Eadulf zu wecken, der im Raum gegenüber schlief. So schnell es ging, glitt sie die Treppe hinunter und lief hinaus in die kalte Dunkelheit des frühen Morgens.
Die Nacht war still, so ruhig. Doch der Mond, nicht mehr ganz voll, schien hell mit einem weißen Licht, das den Hof in einen unheimlichen Glanz tauchte. Bruder Solin eilte leise über den Hof. Sie konnte sehen, daß er etwas Weißes zusammengerollt in der Hand trug. Sie mußte im Schatten der Tür des Gästehauses warten, denn das Mondlicht war zu hell, als daß sie sich gleich hinter ihm über den Hof wagen konnte.
Bruder Solin verschwand um die Ecke des Gebäudekomplexes, dem sie und Eadulf wenige Stunden zuvor einen Besuch abgestattet hatten. Erst als er außer Sicht war, ging sie ihm nach. An der Ecke blieb sie stehen und spähte vorsichtig um sich. Vergeblich, denn von Bruder Solin war nichts zu sehen, es gab kein Anzeichen, welchen Weg er eingeschlagen hatte. Im ganzen
rath
brannten Fackeln und verstärkten das eigenartige flackernde Halblicht auf den Gebäuden. Die stämmige Figur Bruder Solins war nirgends zu entdecken, es gab auch keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Der Hauptweg führte direkt zu den Pferdeställen, sie machte ein paar zögernde Schritte in diese Richtung, blieb dann stehen und zuckte die Achseln.
Es hatte keinen Zweck, Solin weiter zu suchen. Er hatte sich verkrochen. Es blieb ihr kaum etwas anderes übrig, als zum Gästehaus zurückzukehren. Was hatte Bruder Solin gemeint? Cashel würde jemandem zufallen, bevor der Sommer herum ist. Das hatte er gesagt. Der Sommer dauerte nur noch einen Monat. Welche Bedrohung gab es und welchen Anteil hatte Solin daran? Daß der Schlüssel zu dem Geheimnis bei Solin lag, das war ihr nun völlig klar. Doch zu welchem Geheimnis?
Plötzlich hörte sie ein Geräusch wie von einem Handgemenge.Sie lauschte angestrengt. Es kam aus der Richtung der Pferdeställe. Leise bewegte sie sich auf den Eingang des Stalls zu. Über der Tür brannte eine Fackel und warf einen zuckenden Lichtkreis.
Hatte sie einen erstickten Schrei gehört, langgezogen wie im Todeskampf? Sie wartete ein paar Augenblicke auf ein weiteres Geräusch.
Plötzlich trat eine Gestalt aus der Stalltür und sah sich vorsichtig um. Sie war von Kopf bis Fuß in einen langen Kapuzenmantel gekleidet und hielt die Kapuze mit einer Hand vor den unteren Teil des Gesichts. Nur Augen und Nase waren sichtbar. Es war eine schlanke Gestalt, das konnte Fidelma erkennen trotz des verhüllenden Mantels. Als die Gestalt den Weg entlangschaute, fiel das Licht der Fackel auf den sichtbaren Teil ihrer Züge – nur für einen Moment und mit tanzenden Schatten, die die genauen Umrisse verbargen. Dennoch hatte Fidelma keinen Zweifel, daß sie die unverwechselbaren dunklen Augen und Gesichtszüge Orlas erblickt hatte.
Die schlanke Gestalt eilte plötzlich fort in die Dunkelheit in Richtung auf das Gebäude, in dem sich Murgals Wohnung und noch andere befanden.
Fidelma blieb unschlüssig stehen. Sollte sie dieser verstohlenen Gestalt folgen und wenn ja, zu welchem Zweck? Sie mußte immer noch Bruder Solin finden. Er wäre sicher der letzte, mit dem sich Orla mitten in der Nacht heimlich verabreden würde, nachdem sie gedroht hatte, ihn umzubringen.
Vielleicht war Bruder Solin woanders hingegangen? Warum sollte die Schwester des Fürsten und Frau seines Tanist nicht die Ställe im
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zu jeder Zeit aufsuchen, die ihr beliebte?Das ging Fidelma nichts an, und doch … Doch war es klar, daß Orla nicht gesehen werden wollte. Warum? Als Fidelma das Problem erwogen hatte, war die Gestalt in der Dunkelheit verschwunden, und Fidelma stand allein in der Stille der Nacht.
Sie unterdrückte einen Seufzer und wandte sich ab. Wenn das Unwahrscheinliche eingetreten war und Solin sich mit Orla im Stall getroffen hatte, dann mußte er ihn durch einen anderen Ausgang
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