Tod im Weinkontor
hatte, und ihn in die Totenkammer getragen.
Andreas bewunderte den Mut Heynricis, denn jede Berührung
mit einem Leprakranken konnte den Tod bedeuten. Er verstand
nicht, warum der heiligmäßige Mann so große
Angst vor der Inquisition hatte, wo er hier doch täglich
sein Leben aufs Spiel setzte.
Auch im Traum nahm Heynrici den Toten ab, doch dann stand der
Leprose plötzlich auf eigenen Beinen und grinste Andreas an.
Heynrici und der Pförtner waren verschwunden; alles
außer dem Kranken war in Nebel und Dunkelheit versunken.
Der Sieche hatte keine Zunge mehr. Als er den Mund weit
aufsperrte, gähnte in seinem Schlund nur ein tiefes Loch.
Trotzdem konnte er sprechen. »Suche den Toten bei den
Lebenden«, sagte er. »Der Wein ist das Leben.«
Er grinste. »Was soll das heißen?«, fragte
Andreas im Traum. »Nichts ist so, wie es scheint. Gut und
Böse sind keine voneinander geschiedenen Elemente, sie haben
sich seit Anbeginn der Zeit vermischt. Wie Wein und Wasser. Wein
ist Wasser, und Wein ist Blut. Suche im Wasser, und suche im
Blut. Glaube nie an das, was du siehst. Was du nicht sehen
kannst, was verborgen ist, was sich verschworen hat, das hat
Macht und ist gefährlich. Glaube nicht, dass es vorüber
ist. Es hat noch nicht einmal begonnen.«
»Wovon redest du?«, fragte Andreas und wischte
sich den Schweiß von der Stirn.
»Du siehst nur die Oberfläche, doch darunter
brodelt es. Hast du noch nicht bemerkt, dass sich seltsame Dinge
ereignen?«
Andreas nickte.
Da zerplatzte das Traumbild des Leprosen, und Andreas erwachte
schweißgebadet.
Der Drucker Ulrich Zell wohnte erst seit einem Monat im Haus
Lyskirchen am Filzengraben. Er war der Erste gewesen, der die
Kunst des Drucks mit beweglichen Lettern nach Köln gebracht
hatte, und war beim großen Meister Johannes Gensfleisch,
genannt Gutenberg, zu Mainz in die Lehre gegangen. Nun
führte er in Köln schon seit sieben Jahren sein Gewerbe
aus, das von vielen Gelehrten als sehr bedenklich angesehen und
nahezu als Zauberei betrachtet wurde. Noch nie war es
möglich gewesen, Bücher so schnell zu
vervielfältigen und dadurch Wissen zu verbreiten. Der
Siegeszug des gedruckten Buches schien unaufhaltsam zu sein.
Andreas hatte noch nie eine Druckerwerkstatt von innen gesehen
und war sehr gespannt. Ihn freute es, dass sich das Wissen um die
Allmacht Gottes nun noch schneller verbreiten konnte. Er stand
vor dem spitzgiebeligen Steinhaus unweit des Rheins und schaute
an der Sandsteinfassade hoch. Alle Fenster waren verglast, ein
kleiner Erker schob sich neugierig wie eine schnüffelnde
Nase aus der Mauer hervor. Hinter dem großen Portal
ertönten aus dem Erdgeschoss hin und wieder polternde und
knirschende Geräusche. Hier lag wohl die Werkstatt; die
Wohnräume waren vermutlich über die kleine Tür
rechts neben dem Portal zu erreichen. Andreas klopfte mit der
Faust gegen das Portal.
Er musste noch einmal klopfen, bis endlich jemand kam und die
Tür öffnete. Es war ein Junge von kaum zehn Jahren, der
Andreas mit hellen, neugierigen Augen ansah. »Was
wünscht Ihr?«
Durch den Türspalt hindurch konnte Andreas eine der
berühmten Druckerpressen sehen. Es war ein wahres Monstrum.
Zwei Gesellen waren mit seltsamen Hebeln und Gegenständen
beschäftigt, und soeben fuhr eine Platte hinunter und schien
etwas zu zerquetschen.
»Ich will Meister Ulrich Zell sprechen.«
»Der Meister ist sehr beschäftigt. Er setzt gerade
die Lettern für den neuen ›Liber de singularitate
clericorum‹ des heiligen Augustinus. Kann ich ihm etwas
ausrichten?«
»Nein, ich muss ihn selbst sprechen.«
»Könnt Ihr in ein paar Tagen wieder kommen? Der
Meister hat mir aufgetragen, niemanden zu ihm vorzulassen«,
sagte der Junge mit hoher, aber fester Stimme, in der nicht eine
Spur von Ehrfurcht vor dem Priesterrock lag.
Die Zeiten ändern sich, dachte Andreas. Noch vor wenigen
Jahren wäre ein derart freches Verhalten unmöglich
gewesen. Vor wenigen Jahren hatte es auch noch keine gedruckten
Bücher gegeben. Die Zeichen für den Anbruch einer neuen
Zeit waren für die Aufmerksamen überall zu sehen. Oder
war es der Anbruch der Apokalypse?
»Ich fürchte, ich muss deinen Herrn persönlich
sprechen. Es ist sehr wichtig; es geht um weitaus mehr als nur um
Bücher.«
»Nur? Wie könnt Ihr dieses Wort im Zusammenhang mit
einem gedruckten Buch gebrauchen?«, versetzte ihm der
Knabe. Andreas wusste nicht, ob er über ihn
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