Tod in Breslau
Anwaldt
beim Namen genannt. Er nahm es sich übel, dass er der
seltsamen Bitte Anwaldts nachgekommen war und ihn
unter falschem Namen eingeführt hatte. »Verzeihen Sie,
aber Ihre Frage ist für unseren Fall wirklich nicht von Belang. Erstens hätten Sie das besser die Verstorbene fragen sollen, und zweitens würde uns die Antwort wohl kaum
weiteren Aufschluss über den Verbleib ihres Sohnes ge-
ben. Und das ist ja eigentlich, was uns interessiert.«
»Herr Kommissar, ich bin nicht extra nach Poznań ge-
kommen, um mir von Ihnen jetzt die Fragen verbieten zu
lassen.«
Anwaldt starrte die kleinen gelben Scheiben der Bü-
cherschränke an, hinter denen sich zahllose Bände reih-
ten, und wunderte sich über die große Auswahl an Über-
setzungen griechischer Literatur. In seinen Ohren klang
ihm noch der Vers des König Ödipus:
»Uns, Herr! Ist dies beängstigend! Doch bis Du Den
Mann befragt hast, der dabei war, habe Hoffnung!«
»Sie war ja noch jung. Sie wollte noch heiraten.«
»In welches Waisenhaus haben Sie das Kind ge-
bracht?«
»Das weiß ich nicht mehr. Aber es war sicher ein ka-
tholisches …«
»Wie denn, waren Sie nun in Berlin oder nicht? Sind
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Sie mit dem Kind einfach so drauflosgefahren, ohne zu
wissen, wo Sie es lassen? Woher wussten Sie, dass Sie es
überhaupt irgendwo unterbringen können?«
»Am Bahnhof haben zwei Klosterschwestern auf das
Kind gewartet. Das hatte die Familie des Vaters so arran-
giert.«
»Welche Familie? Wie hieß sie?«
»Ich weiß es nicht. Hanna hat es streng geheim gehal-
ten, sie hat mit niemandem darüber geredet. Ich nehme
an, dass sie für ihr Schweigen viel Geld bekommen hat.«
»War sonst noch etwas vereinbart?«
»Ja. Die Familie des Vaters hat im Voraus bezahlt, da-
mit der junge das Gymnasium besuchen darf.«
Anwaldt fühlte, wie sich etwas in seiner Brust
schmerzhaft zusammenkrampfte. Er stand auf, wanderte
im Zimmer umher und versuchte den Schmerz zu ver-
treiben. Er zündete sich eine weitere Zigarette an, mit
dem Resultat, dass ihn ein trockener Husten schüttelte.
Als er sich davon erholt hatte, murmelte er abwesend die
Zeilen Sophokles’:
»Uns, Herr! Ist dies beängstigend! Doch bis Du Den
Mann befragt hast, der dabei war, habe Hoffnung!«
»Wie bitte?«, fragten Anwaldt und Banaszak wie aus
einem Mund. Sie starrten den Breslauer Polizisten entgei-
stert an, der sich dem Sessel von Mieczysław näherte und
zischte:
»Welchen Namen hat das Kind bekommen?«
»Wir haben das Kind in Ostrów Wielkopolski taufen
lassen. Der Priester hat uns geglaubt, dass wir ein Ehe-
paar sind. Er wollte lediglich meinen Pass sehen. Die
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Taufpaten waren zufällige Passanten, ich habe ihnen et-
was gezahlt …«
»Werden Sie mir, zum Teufel, jetzt endlich sagen, wie
dieses Kind heißt?!«
»So wie ich: Anwaldt. Wir haben ihm den Vornamen
Herbert gegeben.«
Poznań, 17. Juli 1934.
Zwei Uhr nachmittags
Herbert Anwaldt hatte sich genüsslich auf dem plüsch-
überzogenen Diwan im Salonabteil ausgestreckt. Er blät-
terte im »König Ödipus« und ignorierte völlig die wim-
melnden Menschen auf dem Perron des Poznańer Bahn-
hofs. Der Schaffner kam herein und fragte höflich, was
der gnädige Herr während der Reise zu essen wünsche.
Anwaldt hob den Blick nicht von seinem Buch und be-
stellte eine Portion Eisbein und eine Flasche Baczewski-
Wodka. Der Schaffner verbeugte sich und verließ das Ab-
teil, als sich der Zug in Richtung Breslau in Bewegung
setzte.
Anwaldt stand auf und blickte in den Spiegel.
»Na, fein, wie du anfängst, mit dem Geld um dich zu
werfen! Aber was soll’s! Weißt du, dass dein Papa eine
Menge Kohle hat? Er ist ein sehr lieber Papa! Er hat mir
eine Ausbildung im besten humanistischen Gymnasium
von Berlin bezahlt!«
Er streckte sich wieder auf dem Sofa aus, bedeckte sein
Gesicht mit dem aufgeschlagenen Buch und genoss den
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schwachen Geruch der Druckerschwärze. Dabei hielt er
die Augen geschlossen, um seiner vagen Vorstellung der
Zukunft leichter Konturen verleihen zu können, um ir-
gendeines der Bilder festzuhalten, die sich an der Schwel-
le zu seinem Bewusstsein drängten wie in einem Foto-
plastikon, wo sie immer weitersprangen und nicht in ih-
rem vorgesehenen Rahmen bleiben wollten. Es war einer
jener Momente, in denen das Rauschen in den Ohren
und der Schwindel im Kopf eine Offenbarung ankündig-
ten, einen prophetischen Traum, die Vision eines
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