Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tod in Breslau

Tod in Breslau

Titel: Tod in Breslau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marek Krajewski
Vom Netzwerk:
Anwaldt
    beim Namen genannt. Er nahm es sich übel, dass er der
    seltsamen Bitte Anwaldts nachgekommen war und ihn
    unter falschem Namen eingeführt hatte. »Verzeihen Sie,
    aber Ihre Frage ist für unseren Fall wirklich nicht von Belang. Erstens hätten Sie das besser die Verstorbene fragen sollen, und zweitens würde uns die Antwort wohl kaum
    weiteren Aufschluss über den Verbleib ihres Sohnes ge-
    ben. Und das ist ja eigentlich, was uns interessiert.«
    »Herr Kommissar, ich bin nicht extra nach Poznań ge-
    kommen, um mir von Ihnen jetzt die Fragen verbieten zu
    lassen.«
    Anwaldt starrte die kleinen gelben Scheiben der Bü-
    cherschränke an, hinter denen sich zahllose Bände reih-
    ten, und wunderte sich über die große Auswahl an Über-
    setzungen griechischer Literatur. In seinen Ohren klang
    ihm noch der Vers des König Ödipus:
    »Uns, Herr! Ist dies beängstigend! Doch bis Du Den
    Mann befragt hast, der dabei war, habe Hoffnung!«
    »Sie war ja noch jung. Sie wollte noch heiraten.«
    »In welches Waisenhaus haben Sie das Kind ge-
    bracht?«
    »Das weiß ich nicht mehr. Aber es war sicher ein ka-
    tholisches …«
    »Wie denn, waren Sie nun in Berlin oder nicht? Sind
    292
    Sie mit dem Kind einfach so drauflosgefahren, ohne zu
    wissen, wo Sie es lassen? Woher wussten Sie, dass Sie es
    überhaupt irgendwo unterbringen können?«
    »Am Bahnhof haben zwei Klosterschwestern auf das
    Kind gewartet. Das hatte die Familie des Vaters so arran-
    giert.«
    »Welche Familie? Wie hieß sie?«
    »Ich weiß es nicht. Hanna hat es streng geheim gehal-
    ten, sie hat mit niemandem darüber geredet. Ich nehme
    an, dass sie für ihr Schweigen viel Geld bekommen hat.«
    »War sonst noch etwas vereinbart?«
    »Ja. Die Familie des Vaters hat im Voraus bezahlt, da-
    mit der junge das Gymnasium besuchen darf.«
    Anwaldt fühlte, wie sich etwas in seiner Brust
    schmerzhaft zusammenkrampfte. Er stand auf, wanderte
    im Zimmer umher und versuchte den Schmerz zu ver-
    treiben. Er zündete sich eine weitere Zigarette an, mit
    dem Resultat, dass ihn ein trockener Husten schüttelte.
    Als er sich davon erholt hatte, murmelte er abwesend die
    Zeilen Sophokles’:
    »Uns, Herr! Ist dies beängstigend! Doch bis Du Den
    Mann befragt hast, der dabei war, habe Hoffnung!«
    »Wie bitte?«, fragten Anwaldt und Banaszak wie aus
    einem Mund. Sie starrten den Breslauer Polizisten entgei-
    stert an, der sich dem Sessel von Mieczysław näherte und
    zischte:
    »Welchen Namen hat das Kind bekommen?«
    »Wir haben das Kind in Ostrów Wielkopolski taufen
    lassen. Der Priester hat uns geglaubt, dass wir ein Ehe-
    paar sind. Er wollte lediglich meinen Pass sehen. Die
    293
    Taufpaten waren zufällige Passanten, ich habe ihnen et-
    was gezahlt …«
    »Werden Sie mir, zum Teufel, jetzt endlich sagen, wie
    dieses Kind heißt?!«
    »So wie ich: Anwaldt. Wir haben ihm den Vornamen
    Herbert gegeben.«

    Poznań, 17. Juli 1934.
    Zwei Uhr nachmittags

    Herbert Anwaldt hatte sich genüsslich auf dem plüsch-
    überzogenen Diwan im Salonabteil ausgestreckt. Er blät-
    terte im »König Ödipus« und ignorierte völlig die wim-
    melnden Menschen auf dem Perron des Poznańer Bahn-
    hofs. Der Schaffner kam herein und fragte höflich, was
    der gnädige Herr während der Reise zu essen wünsche.
    Anwaldt hob den Blick nicht von seinem Buch und be-
    stellte eine Portion Eisbein und eine Flasche Baczewski-
    Wodka. Der Schaffner verbeugte sich und verließ das Ab-
    teil, als sich der Zug in Richtung Breslau in Bewegung
    setzte.
    Anwaldt stand auf und blickte in den Spiegel.
    »Na, fein, wie du anfängst, mit dem Geld um dich zu
    werfen! Aber was soll’s! Weißt du, dass dein Papa eine
    Menge Kohle hat? Er ist ein sehr lieber Papa! Er hat mir
    eine Ausbildung im besten humanistischen Gymnasium
    von Berlin bezahlt!«
    Er streckte sich wieder auf dem Sofa aus, bedeckte sein
    Gesicht mit dem aufgeschlagenen Buch und genoss den
    294
    schwachen Geruch der Druckerschwärze. Dabei hielt er
    die Augen geschlossen, um seiner vagen Vorstellung der
    Zukunft leichter Konturen verleihen zu können, um ir-
    gendeines der Bilder festzuhalten, die sich an der Schwel-
    le zu seinem Bewusstsein drängten wie in einem Foto-
    plastikon, wo sie immer weitersprangen und nicht in ih-
    rem vorgesehenen Rahmen bleiben wollten. Es war einer
    jener Momente, in denen das Rauschen in den Ohren
    und der Schwindel im Kopf eine Offenbarung ankündig-
    ten, einen prophetischen Traum, die Vision eines

Weitere Kostenlose Bücher