Tod in Breslau
hievte er ihn auf eine niedrige Chaise-
longue und durchsuchte die Taschen Anwaldts. Nichts.
(Die hat schon ein Taschendieb ausgeräumt.) Mock lok-kerte Anwaldts Krawatte, knöpfte das Hemd auf und zog
ihm die Schuhe aus. Anwalts Kleidung war in furchtba-
rem Zustand, sie starrte vor Schmutz, Fettflecken und
Asche, seine eingefallenen Wangen umschattete ein
Zweitagebart. Mock betrachtete seinen Mitarbeiter noch
eine Weile nachdenklich, dann ging er durch die Küche
in die Speisekammer, wo er auf den obersten Regalen ei-
ne Reihe von grünen Einmachgläsern aufbewahrte. Jedes
war mit Pergamentpapier und einem hellen Gummiband
verschlossen. Endlich hatte er das Richtige mit den ge-
trockneten Pfefferminzblättern gefunden. Zwei Hand voll
davon warf er in eine große Kanne. Es kostete ihn einige
Mühe, alle Utensilien zusammenzusuchen, um ein Feuer
im Herd anzufachen, aber endlich setzte er einen großen,
polierten Teekessel auf die glühende Platte. Aus dem Ba-
dezimmer holte er eine emaillierte Waschschüssel und
stellte sie für alle Fälle neben Anwaldts Liegestatt. Daraufhin kehrte er zurück in die Küche und goss das inzwi-
schen siedende Wasser in die Kanne mit den Blättern. Da
er nicht wusste, wie er das Feuer löschen sollte, goss er
kurzerhand ein wenig Leitungswasser in die Herdklappe.
Als Nächstes nahm er ein kühles Bad, zog den Haus-
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mantel über, setzte sich an den Schreibtisch und zündete
sich eine der dicken türkischen Zigarren an, die er für besondere Gelegenheiten aufbewahrt hatte. Die Schachfigu-
ren standen unverändert: der König war noch immer
lahm gelegt. Die Bedrohung durch den Springer und die
Dame bestand nach wie vor. Doch war nun die weiße
Dame wiedergewonnen, und sie kam dem bedrängten
König zu Hilfe.
Breslau, Mittwoch, 18. Juli 1934.
Acht Uhr morgens
Anwaldt öffnete seine verquollenen Augen. Das Erste,
was er erblickte, waren die Kanne auf dem Tisch und ein
Glas. Mit zitternden Händen schenkte er sich den abge-
seihten Pfefferminztee ein und trank gierig.
»Was ist, brauchst du ein Messer, damit du die Zähne
auseinander kriegst?« Mock band sich seine Krawatte, er
verströmte eine Wolke von wohlriechendem Eau de Co-
logne und lächelte nachsichtig. »Weißt du was, ich bin
nicht einmal böse auf dich. Wie kann man jemandem bö-
se sein, den man wie durch ein Wunder wiedergefunden
hat? Ein Fingerschnipsen, und Anwaldt ist da! Und
schnips, weg ist er! Schnips, und er ist wieder da!« Mock
wurde ernst: »Wenn es einen wichtigen Grund gab, war-
um du dich aus dem Staub gemacht hast, dann brauchst
du nur zu nicken.«
Anwaldt bewegte vorsichtig den Kopf. Unter seiner
Schädeldecke brannte ein wahres Feuerwerk ab. Er
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schenkte sich Tee nach. Einen derartigen Kater hatte er
lange Zeit nicht mehr gespürt. Mock stand breitbeinig
daneben, faltete die Hände über dem Bauch und drehte
die Daumen umeinander.
»Gut. Wie ich sehe, hast du Durst. Das heißt also, dass
Schluss mit der Kotzerei ist. Ich habe dir ein Bad einge-
lassen. Im Badezimmer liegt eines meiner Hemden und
dein gereinigter Anzug. Du hast dich gestern ordentlich
eingesaut. Ich musste der Frau des Hausmeisters ein
schönes Sümmchen für ihre Bemühungen hinlegen. Sie
hat sicher die halbe Nacht daran gesessen. Deine Schuhe
hat sie übrigens auch geputzt. Du kannst mir das Geld
später zurückgeben. Gestern hat dich offenbar jemand
beraubt. Und jetzt rasier dich, du siehst aus wie ein
Pennbruder! Nimm mein Rasiermesser!« Mock war kurz
angebunden. »Hör mir gut zu: In einer Dreiviertelstunde
werden wir uns hinsetzen, und du wirst mir einen geraff-
ten Bericht über deine Abenteuer liefern. Dann fahren
wir zum Johannesdom. Dort erwartet uns um Viertel
nach neun Doktor Leo Hartner.«
Sie betraten das kühle Halbdunkel. Die Wucht der Sonne
prallte an den bunten Mosaikfenstern ab, die Mauern der
mächtigen Kathedrale dämpften den Lärm und das Ge-
dränge der Stadt, die in der Hitze kochte. Hier ruhten et-
liche schlesische Fürsten unter ihren Grabplatten, und die lateinischen Inschriften an den Wänden hielten dazu an,
über die Ewigkeit nachzudenken. Auf Mocks Armband-
uhr war es zwanzig nach neun. Wie verabredet setzten sie
sich in die erste Bank und warteten auf Hartner, der noch
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nicht erschienen war, aber stattdessen kam ein fast kahl
geschorener Priester auf die beiden zu. Wortlos überreich-
te er Mock ein Kuvert, machte auf
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