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Tod in Breslau

Tod in Breslau

Titel: Tod in Breslau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marek Krajewski
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Hellse-
    hers oder vielleicht eines orakelnden Mediums. Er öffnete
    die Augen und sah sich neugierig in dem geisterhaften
    Kolonialwarenladen um. Ein brennender Schmerz quälte
    ihn. Es waren die Wespenstiche, die nun zu pulsieren be-
    gannen. Der untersetzte Verkäufer mit der schmutzigen
    Schürze vor dem Bauch lachte und reichte ihm eine Hand
    voll Zwiebelschalen. Das Lachen wich nicht aus seinem
    Gesicht. »Du Schwein!«, schrie Anwaldt, »mein Papa
    wird dich umbringen!« Der Verkäufer kam hinter der
    Theke hervor und wollte sich auf den Jungen stürzen, der
    sich aber hinter der Erzieherin verstecken konnte, die ge-
    rade den Laden betrat. Sie blickte Anwaldt wohlwollend
    an. (Bitte, Fräulein, sehen Sie mal, was für einen Turm ich aus den Klötzen gebaut habe! Ja, ein sehr schöner Turm, Herbert! Die Erzieherin klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. Noch einmal. Und dann noch einmal.)
    »Bitte sehr, der Herr, einmal Eisbein.«
    Anwaldt legte das Buch zur Seite, setzte sich auf und
    entkorkte die Flasche. Seine Hand zitterte. Ein Kind
    schrie. Der kleine Klaus aus dem Waschteichpark lag wie
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    eine vergiftete Kakerlake auf dem Rücken und strampelte
    mit den Beinen. »Das ist nicht mein Vater!« Das gleich-
    mäßige Rumpeln der Räder. Es übertönte das Geschrei
    des kleinen Klaus. Anwaldt setzte die Flasche an. Die
    brennende Flüssigkeit entfaltete in seinem leeren Magen
    sofort die erwünschte Wirkung, sein Kopf wurde klar,
    seine Nerven beruhigten sich. Mit Appetit biss er in das
    appetitliche rosa Fleisch. Nach kurzer Zeit lag auf dem
    Teller nur noch der nackte, dicke Knochen. Anwaldt
    fühlte sich vom Alkohol benommen, und immer wieder
    entstand in seinem Kopf jenes Bild von Chaim Soutine,
    der dunkelgrüne Wald und die beiden deformierten Ge-
    stalten der vertriebenen Kinder. Nicht alle sind vertrieben worden, sagte er sich, den Kleinen aus dem Zug nach
    Rawicz wird niemand jemals irgendwohin treiben. Du
    bist auch Pole. Deine Mutter war Polin. Anwaldt setzte
    sich auf und trank hastig hintereinander zwei gut gefüllte Gläser Wodka. Die Flasche war leer. (Heißer Wüstensand hatte sich auf den Steinboden gelegt. Ein zotteliger Ziegenbock glotzte in die verwüstete Gruft. Die Spuren seiner Klauen im Sand. Der Wind bläst den Sand in die Ritzen
    der Wand. Von der Decke fallen kleine, flinke Skorpione.
    Sie krabbeln um ihn herum, ihre giftigen Schwänze sind steil aufgerichtet. Eberhard Mock zertritt sie – einen nach dem anderen. Ich werde umkommen, so wie meine Schwester umgekommen ist. Es fiel ihm wieder ein, wie es bei Sophokles hieß: »Oh Unglückseliger! Dass niemals du er-kenntest, wer du bist!«)
    XIV
    Breslau, Dienstag, 17. Juli 1934.
    Sieben Uhr abends

    Eberhard Mock saß mit entblößtem Oberkörper in seiner
    Wohnung und erholte sich von einem nervenaufreiben-
    den Tag. Er hatte das Schachbrett aufgestellt und war nun
    in die Lektüre von Überbands »Schachfallen« vertieft. Bei
    der Analyse einer Meisterpartie versetzte er sich wie üb-
    lich in die Defensive und fand nach einiger Zeit zu seiner Zufriedenheit eine Lösung, die immerhin zu einem Patt
    führte. Noch einmal sah er auf das Schachbrett. An Stelle
    des Königs, der zwar nicht im Schach stand, jedoch kei-
    nen Zug mehr ausführen konnte, sah er sich selbst, Kri-
    minaldirektor Eberhard Mock. Er stand in die Ecke ge-
    drängt, bedroht vom schwarzen Springer, Olivier von der
    Malten, und von der Dame, dem Gestapo-Chef Erich
    Kraus. Der weiße Läufer, Smolorz, stand nutzlos in einer
    Ecke des Schachbretts, und seine Dame, Anwaldt, trieb
    sich auf dem Schreibtisch außerhalb des Schachbretts
    herum.
    Mock hob den Telefonhörer nicht ab, obwohl es hart-
    näckig bereits zum vierten Mal klingelte. Es stand zu er-
    warten, dass die kühle Stimme des Barons von der Malten
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    von ihm einen Bericht verlangte – und was hätte Mock
    berichten sollen? Dass Anwaldt verschollen war? Dass der
    Besitzer des Hauses, in dem Maass wohnte, mit einem
    neuen Mieter in Maass’ Wohnung erschienen war und
    dort Smolorz angetroffen hatte? Natürlich hätte er ihm
    eröffnen können, dass er den Mörder identifiziert habe.
    Aber wo war dieser Mann? Noch in Breslau? Oder sonst
    irgendwo in Deutschland? Vielleicht in den Bergen Kur-
    distans? Das Telefon läutete wieder. Mock zählte die
    Klingelzeichen, es waren zwölf. Er erhob sich und ging im
    Zimmer umher, bis das Telefon verstummte. Erst in die-
    sem Moment griff er nach dem Hörer.

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