Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tod in der Marsch

Tod in der Marsch

Titel: Tod in der Marsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Nygaard
Vom Netzwerk:
Junge«, schnaufte der Oberrat
schließlich. »Ich bin jetzt fast vierzig Jahre Polizist. Mir haben schon viele
junge Leute gegenübergesessen. Mich kann wenig beeindrucken, aber wenn jemand
unsere Aufgabe für den Bürger so versteht, dass wir auch einmal über unseren
Schatten springen, einmal scheinbar unverständliche Dinge tun, die nicht
irgendwo paraphiert sind, dann finde ich das couragiert. Für mich wartet eine
ordentliche Polizei nicht darauf, dass irgendeine Anzeige ins Haus flattert,
die dann gestempelt und sauber abgelegt wird. Nein, der Schutzmann, der gute
alte Schutzmann, soll durch die Straßen seines Bezirkes gehen, mit den Bürgern
sprechen, sich die Sorgen der großen und kleinen Leute anhören. Und dieses
Durch-die-Straßen-Gehen ist nichts anderes als eine scheinbar ziel- und
planlose Wanderung. Aber genau das verkörpert unsere Aufgabe, verschafft uns
ein positives Image. Ich vertrete immer wieder die Ansicht, die Polizei soll
präventiv wirken und nicht erst tätig werden, wenn eine Straftat begangen
wurde. Nehmen Sie die gute alte Zeit, als an jeder Ecke ein Schutzmann stand.
Auch nachts patrouillierte die Polizei durch die Straßen. Als in den Parks der
großen Städte noch berittene Uniformierte unterwegs waren, hat sich kein
Spitzbube getraut, einer alten Dame die Handtasche zu entwenden. Das ist
Prävention. Und Sie haben mit ihrer Besorgnis um eines unserer Kinder in meinen
Augen hervorragende Polizeiarbeit geleistet. Gratuliere.«
    Christoph verschlug es den Atem. Alles hatte er
erwartet, aber nicht diese Reaktion, auch wenn er Grothes idealistisch
gefärbten Verklärungen der Vergangenheit nicht zustimmen konnte. Dieser
vierschrötige Mann mochte vielleicht ein ganz eigenartiges Auftreten und ein
gewöhnungsbedürftiges Erscheinungsbild haben. Aber das Herz hatte er auf dem
rechten Fleck. Christoph erschrak über sich selbst, als er sich ganz
automatisch mit strammer Stimme sagen hörte: »Jawohl, Chef!«
    Grothe Züge wechselten abrupt zu einem konzentrierten
Ausdruck. »Sie nannten den Namen Grün«, konstatierte er, ohne eine Antwort zu
erwarten. Er griff zum Telefonhörer, um sofort, nachdem am anderen Ende
abgehoben wurde, barsch zu befehlen: »Bringen Sie mir einmal die Akte Grün, ich
glaube, Leo hieß der. Das muss schon eine Weile zurückliegen.«
    Kurze Zeit später reichte ein uniformierter Kollege
einen blassblauen Aktendeckel aus Pappe ins Büro. Grothe schlug den Deckel auf
und überflog den Inhalt. Schließlich blickte er Christoph über den Rand der
Unterlage an.
    »Dachte ich mir doch«, begann er seine Erklärung, »da
war etwas. Gegen Leo Grün haben wir vor drei Jahren aufgrund einer anonymen
Anzeige ermittelt. Ein Unbekannter – wir haben nie erfahren, wer es war – hat
Grün damals der Unzucht mit Kindern bezichtigt. Er zielte dabei auf das
Nachbarskind, die kleine Lisa Dahl, ab.«
    Christoph erinnerte sich daran, dass ihm der alte Herr
von sich aus erzählt hatte, dass die Kleine ihn oft besucht habe, sie Bilder
betrachtet hätten und er ihre Wissbegierde – so hatte er sich ausgedrückt – gestillt
habe.
    »Das Ermittlungsverfahren ist eingestellt worden. Es
haben sich keine Verdachtsmomente ergeben. Auch haben weder die Eltern noch das
Kind in irgendeiner Weise etwas Negatives verlauten lassen.«
    »Leo Grün war doch schon weit über siebzig Jahre, da
erscheint allein der Verdacht absurd«, wandte Christoph ein, um sich gleich
darauf selbst zu korrigieren: »Die Erfahrung zeigt immer wieder, dass auch
anscheinend unmögliche Dinge vorkommen.«
    »Erschwerend kommt hinzu«, fuhr Grothe fort, »dass zu
Beginn der fünfziger Jahre, als der Jude«, er tippte mit dem Finger auf den
Aktendeckel und fügte ein: »Das steht hier natürlich nicht drinnen …« Fast zu
sich selbst ergänzte er leise: »Das dürfen wir ja auch gar nicht schreiben.« Er
setzte erneut an: »In den fünfziger Jahren, als Leo Grün ein junger Lehrer war,
ist schon einmal eine anonyme Anzeige gegen ihn wegen – sagen wir einmal –
merkwürdigen Umgangs mit den ihm anvertrauten Kindern eingegangen. Auch damals
verliefen die Ermittlungen im Sande. Es wurde niemand gefunden, der öffentlich
einen Verdacht gegen Grün äußern wollte, geschweige denn eine konkrete
Beschuldigung vorgebracht hat.«
    »Das hat sicher auch eine Ursache darin, dass damals
kurz nach dem Krieg niemand öffentlich gegen einen Mitbürger jüdischen Glaubens
auftreten mochte. Er wäre dann selbst ins Rampenlicht

Weitere Kostenlose Bücher