Tod in der Walpurgisnacht
Sache.
Plötzlich schossen ihr die Tränen in die Augen. Die Trauer über sich selbst, über das, was geschehen war, und das, was jetzt war. Sie musste etwas tun! Sie musste das Leben in Gang bringen und ein fröhliches Glitzern in ihre Augen bekommen.
Britta-Stina war ihr gefolgt und stand in der Tür.
»Wir haben uns überlegt, ein Bettsofa zu kaufen und es hier reinzustellen und das Zimmer als Gästezimmer zu benutzen«, sagte sie. »Oder hast du was dagegen?«
Ein ängstlicher Blick flackerte Hilda entgegen. Das war der Alles-Recht-machen-Blick, der Hilda zur Weißglut treiben konnte, denn man konnte sich ja schließlich nicht gegen einen Menschen wenden, der schon am Boden lag.
»Natürlich nicht«, sagte Hilda und musste daran denken, dass sie doch niemals Gäste hatten.
Die Tür war zu hören, Robert kam nach Hause. Hilda sprang die Treppe hinunter.
»Hallo, Mädel«, sagte Robert und legte in einer etwas linkischen Umarmung den Arm um ihre Schultern.
Sie setzten sich. Das Essen schmeckte natürlich gut, denn Britta-Stina konnte wirklich ausgezeichnet kochen.
»Ossobuco, was ist das denn Feines?«, fragte Robert ahnungslos.
Sie sahen einander an, und dann fingen alle drei an zu lachen. Hilda wurde etwas sanftmütiger. Sie freuten sich so, dass sie da war. Und so stolz waren sie – Ärztin im Krankenhaus! Sie versuchten, sich in ihrem Stolz zu sonnen, auch wenn das so ungewohnt für sie war. Schließlich durfte man sich nicht für etwas Besseres halten!
Bei Britta-Stina und Robert herrschte Ordnung, und beide waren freundlich, dachte sie jetzt etwas versöhnlicher. Manchmal fühlte sie sich hier wie ein eckiges Teil, das in ein rundes Loch passen sollte, und das ging natürlich gar nicht, aber in diesem Moment glitt das Teil für eine Weile an seinen Platz.
Robert schenkte ihr Bier nach. Hildas Hände waren warm und die Wangen rot.
»Das ist so lecker, du kannst wirklich kochen!«, hörte sie sich selbst sagen und sah Britta-Stina ins Gesicht.
»Meinst du?«, erwiderte Britta-Stina etwas geniert und strahlte vor Freude.
Vielleicht waren diese beiden Menschen der Grund gewesen, warum sie Medizin studiert hatte, dachte sie plötzlich. Und nicht nur ihre eigene »Entscheidungsfreiheit«, wie sie es sich eingebildet hatte. Sie waren zum Bersten stolz darauf, so ein begabtes Mädchen zu Hause zu haben. Wo sie nun keine eigenen Kinder bekommen hatten. Sie, ihre Tochter. Denn sie war ja ihre Tochter, wenn es da auch ein kleines Präfix gab, das markierte, dass sie keine »echte Ware« war. Eine Pflegetochter, die studierte. Man stelle sich vor!
Hilda erinnerte sich, dass Britta-Stina sich wie ein Wurm gewunden hatte, als sie das Mädchen zum ersten Mal vorstellen sollte. »Das ist Hilda, unsere Tochter«, hatte sie gesagt und gleichzeitig Hilda hilflos angestarrt, die, knapp neun Jahre alt, stumm und verschlossen dagestanden hatte. Auf Britta-Stinas Hals waren rote Flecke gewachsen, ihr Blick war beunruhigt gewesen. Beunruhigt, weil sie nicht ihre Mutter sein durfte, zumindest nicht ohne dieses kleine Präfix »Pflege«.
Im Laufe der Zeit wurde es leichter. Hilda wurde Tochter und Pflegetochter, ohne dass groß darüber nachgedacht wurde. Wie es auch immer hieß, wohnte sie doch dort, bei Britta-Stina und Robert. Keiner von ihnen konnte entfliehen, und das wollte auch keiner. Es lief gut, und die sie umgebende Ordnung wirkte immer weniger gefährlich.
Außerdem redeten sie nie darüber, dass sie Ärztin werden sollte. Wenn sie das getan hätten, wäre Hilda sicherlich auf Gegenkurs gegangen. Aber sie erwähnten es bloß, als wäre es reine Verschwendung, nichts aus ihrer Begabung zu machen. Als würde man die Johannisbeeren nicht rechtzeitig pflücken, um Gelee daraus zu machen, sondern die Beeren den Vögeln überlassen.
So ungefähr.
Britta-Stina war eben in kleinen Verhältnissen aufgewachsen, und auch Robert hatte es nicht leicht gehabt, war aber gut zurechtgekommen. Sie hatten angenommen, was das Leben ihnen geboten hatte. Und dann war Hilda zu ihnen gekommen, wie ein Geschenk. Weder Robert noch Britta-Stina waren auch nur annähernd so intelligent wie die Tochter, dessen waren sie sich durchaus bewusst. Diese begabte Tochter, die jetzt hier an dem Küchentisch mit dem blaukarierten Tischtuch mit gutem Appetit Ossobuco aß, während der Regen an die Fensterscheibe prasselte.
Ärztin im Krankenhaus. Man stelle sich das vor!
Kapitel 8
G ezwitscher. Vor dem offenen Schlafzimmerfenster war ein
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