Tod in der Walpurgisnacht
indem sie sich ans Fenster stellte.
»Das ist doch der reinste Matsch«, sagte sie und schaute über die durchnässten Rasenflächen, aus denen die Erde in braunen Rinnsalen über den Asphalt floss.
»Wie ist es im Krankenhaus?«, fragte Britta-Stina.
»Gut«, erwiderte Hilda, drehte sich um und ließ sich an den ordentlich mit Papierservietten und Biergläsern gedeckten Tisch sinken. Alles ganz fein, natürlich ihretwegen.
Wenn es um Haushaltsdinge ging, überließ Britta-Stina nichts dem Zufall, das war schon immer so gewesen. Sie hatte bei einer Buchhaltungsfirma gearbeitet, war aber weder Betriebswirtschaftlerin noch Wirtschaftsprüferin gewesen, sondern Sekretärin, wie man das früher genannt hatte. Es war klar, dass sie weit mehr Potenzial besaß, doch sie hatte nie gefunden, dass es sich »lohnen« könnte, Kurse zu besuchen und sich in Sachen Wirtschaftswissenschaften weiterzubilden, um ein bisschen mehr Verantwortung im Beruf zu übernehmen. Außerdem meinte sie, Geld sei doch nicht alles. Hilda hatte den Verdacht, dass diese Einstellung ihrer Herkunft geschuldet war. Britta-Stina kam aus einfachen Verhältnissen von einem kleinen Hof in einem Dorf namens Krokstorp, einer Ansammlung von Höfen, wo viel harte Arbeit, Sparsamkeit und Phantasie gefordert waren, um vom Acker und den Tieren leben zu können.
Also fand Britta-Stina wohl, dass sie in ihrer jetzigen Position schon genug aus ihrem Leben gemacht hätte. Als Hilda aufs Gymnasium ging, war Britta-Stina zu einer Art Mädchen für alles geworden, holte die Post, kochte den Kaffee und machte Kopien.
Hilda vermutete, dass Britta-Stina sich ziemlich langweilte und dass sie hoffte, Hilda würde nun, da sie wieder in Oskarshamn wohnte, etwas öfter vorbeischauen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie das nicht tat, doch mehr auch nicht. Vielleicht hatte Britta-Stina ja auch vollauf mit dem zu tun, was sie noch schaffte, und empfand die Tage überhaupt nicht als lang. Letztendlich war es Hilda, die beim bloßen Gedanken, in einer vergleichbaren Situation zu sein, schon zu viel kriegte, nicht Britta-Stina.
Mit Britta-Stina ins Kino gehen, mit ihr Kaffee trinken oder was auch immer – dazu hatte Hilda weder die Kraft noch die Lust. Sie wollte ihre Ruhe haben. Wollte ihre Wunden lecken.
Das war aber auch völlig unproblematisch, denn Britta-Stina war geduldig und drängte sie nicht. Sie zeigt sich sogar ihrer eigenen Verlegenheit gegenüber geduldig, dachte Hilda, sah Britta-Stina an und lächelte ihr schnell zu.
»Komm, erzähl doch ein bisschen vom Krankenhaus«, bettelte Britta-Stina.
»Jetzt nicht. Können wir nicht warten, bis Robert kommt?«
Hilda wich aus und fing stattdessen an, durch das Reihenhaus zu gehen. Erdgeschoss und erster Stock. Küche und Wohnraum unten, drei Zimmer und Badezimmer oben. Das größte der Schlafzimmer war natürlich das Schlafzimmer von Britta-Stina und Robert mit Doppelbett und glattgestrichener Tagesdecke mit weißen Lilien auf dunkelblauem Grund.
Schräg gegenüber, Wand an Wand mit Hildas altem Zimmer, stand in einem Zimmer ein Tisch mit Computer, den hauptsächlich Robert benutzte, und ein etwas größerer Tisch, an dem Britta-Stina nähte. Sie war es gewesen, die Hilda in die Welt des Nähens eingeführt hatte, sie hatte ihr gezeigt, wie man eine Nähmaschine bediente und ein Schulterstück nähte, ohne dass es Falten warf. Es dauerte nicht lange, da hatte Hilda ihre Pflegemutter überholt und die Nähmaschine mehr oder weniger übernommen. Und Britta-Stina ließ es geschehen.
Das Mädchen war fleißig, war gut in der Schule und konnte außerdem noch nähen. Es war doch seltsam, dass sie bei ihnen gelandet war.
Hilda betrat das Zimmer, das ihres gewesen war und das immer noch Spuren davon trug, dass ein Mädchen dort gewohnt hatte. Das Bett fehlte, das stand in der Dammgatan.
An der Wand über dem schmalen Schreibtisch hingen die gerahmten Schulfotos, doch der Tisch war leer, nicht voll mit Schulheften, Haarspangen und anderen Sachen.
Hilda sah sich selbst als Zehnjährige, Elfjährige, bis zu dem Tag, als sie Abiturientin war. Auf allen Bildern war der Blick derselbe, ganz gleich, ob das Lächeln scheu, zurückhaltend oder offen war. Das dunkelbraune Haar war die ganzen Jahre über eher kurz. Der Nasenrücken war breit, der Bogen der Oberlippe ein wenig überdimensioniert, deshalb konnte man gut sehen, ob sie lächelte oder ernst war. Es schien immer, als wäre dieses Mädchen nicht ganz bei der
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