Tod in der Walpurgisnacht
glücklichen Traum meinte, das Auto mit Papa am Steuer von der Glashütte her nach Hause fahren zu sehen. Ganz gleich, wie dumm das war, träumte sie doch, obwohl sie sehr gut wusste, dass das Auto nur noch Schrott war.
Außerdem war Papa immer mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren oder gelaufen. Der Weg zur Hütte war nicht weit, da lohnte es sich kaum, das Auto zu nehmen. Wenn sie aus dem Fenster in der oberen Etage schaute, konnte sie den hohen Schornstein hinter den Birken herausragen sehen, die ihre Straße säumten. Wenn die Birken noch nicht ausgeschlagen hatten, sah man sogar das große, rote Ziegelsteingebäude und all die anderen Gebäude um die Hütte herum, die Schreinerei, die Schleifwerkstatt, die Gravur- und die Malerwerkstatt.
Sie verlor noch etwas: ihren Schal. Den hatte sie im Auto vergessen und vermisste ihn nach dem Unglück so schrecklich, dass sie nicht wusste, was schlimmer war, die Sache mit Papa oder der Verlust des Schals, der gestreift und aus dickem Garn gestrickt und schon ein wenig fusselig war. Aber man konnte ja nicht gut nach einem Schal fragen, wenn der eigene Vater weg war.
Stattdessen ging sie den ganzen langen Winter mit nacktem Hals, oder sie zog den Reißverschluss der Jacke so hoch es nur ging. Sie wollte nämlich überhaupt nicht wissen, wie es nach dem Unfall in dem Auto ausgesehen hatte. Vielleicht war nicht mehr viel übrig von dem Schal, vielleicht war er ganz blutig.
Einmal hörte sie, ohne es zu wollen, wie Skogis davon sprach, dass es »die reinste Schlachtung« gewesen sei. Da wuchsen riesige Eiszapfen in ihr, und das war immer noch so, wenn sie an Skogis dachte. Oder hatte er vielleicht nur gesagt, dass es die reinste Schlachtung hätte sein müssen, dass es aber nicht so war?
Sie fragte Mama niemals, wohin Samuel verschwunden war. Ihre Worte wuchsen nie so weit, dass sie gehört werden konnten, sie blieben hilflose und unförmige Gedanken in ihrem Kopf. Und Mama sagte von sich aus nichts, ebenso wenig, wie sie etwas darüber sagte, warum Samuel überhaupt verschwinden musste. Und auch die anderen sagten nichts darüber. Wenn die Leute durch den Zaun schauten oder das Grundstück betraten, um Kaffee zu kochen und Mama zu trösten, wandten sich die Gesichter immer von ihr ab. Und so war es geblieben, seit dem dunklen Abend, an dem Papa nicht nach Hause gekommen war.
Alle kamen vorbei. Und keiner dachte daran, dass sie alles sah und hörte, obwohl sie ein Kind war.
Vielleicht hatte Samuel wegfahren müssen, weil er seit dem Unglück mit Papa nicht mehr im Griff zu halten war. Aber sie wollte ihn unbedingt dahaben, im Zimmer im ersten Stock, neben ihrem.
Alles sollte genauso bleiben wie immer, das war einfach am besten, wenn es so war wie immer, auch wenn jetzt alles auf dem Kopf stand und völlig verrückt war. Und Samuel war genauso wie immer. Nur vor dem Unglück machte es nichts aus, dass er »lebendig« war, wie Papa es nannte.
»Der Junge ist aus gutem Holz geschnitzt!«, scherzte Papa, der Samuel genauso mochte, wie er war. Auch wenn Samuel manchmal ein bisschen herumtobte und Lampen kaputt machte und mit seinen Kumpels bei den Umkleidebuden am Badeplatz herumhing und zündelte.
Ein richtiges Feuer haben sie ja nie angekriegt. Ebbe, der sich um den Fußballplatz und den Badeplatz kümmerte, kam vorbei. Meine Güte, war der sauer.
Ansonsten ist er eigentlich recht nett. Ebbe.
Kapitel 29
E s gibt nichts Schlimmeres, als wenn die geistigen Fähigkeiten nachlassen, dachte Claesson, als er hörte, wie Mariana Skoglund das Bad hinter sich abschloss.
Er musste an seine Mutter denken, die ihn mehrere Jahre nicht mehr erkannt hatte.
Mariana Skoglund brauchte lange. Sie nahm doch wohl keine Tabletten oder tat irgendetwas anderes Dummes? Sie hätten natürlich nachsehen sollen, dass da keine Rasierklingen lagen. Claesson, Lena Jönsson und Patrik Johansson warteten schweigend und jeder in seine Gedanken versunken. Dann hörte man den Wasserhahn laufen.
Endlich kam Mariana Skoglund wieder und setzte sich an den Küchentisch.
»Können wir weitermachen?«, fragte Claesson.
Sie nickte. Wo waren wir stehen geblieben?, dachte er und sah zu Lena Jönsson, die den Block so aufstellte, dass er ihre Notizen lesen konnte. »Schwester tot«, stand dort.
»Was haben Sie gemacht, nachdem Ihre Schwester gestorben war?«, fragte er.
»Bin in ihre Wohnung gefahren. Und das fühlte sich so leer an, aber trotzdem, als ob Inga-Lill noch da wäre, obwohl ich ja schon lange
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