Tod in Innsbruck
nachsagte.
Nach der Pause stand die Sonate in b-Moll von Chopin auf dem Programm. Was für ein Werk! Im ersten Satz schwang eine so tief gehende Verzweiflung mit, dass Vera sich an ihren Stuhl klammerte. Das Klavier flehte mit der Stimme eines Todgeweihten, der sich gegen sein Schicksal stemmte, obwohl er wusste, dass es aussichtslos war. Im Scherzo verwandelte sich der Hammerflügel unter Mettes Händen in ein Pferd, auf dem der Tod selbst mit seinem Opfer durch die Nacht jagte. Es folgte ein exaltierter Trauermarsch, der fast wie eine Parodie wirkte. Vera verbiss sich ein Lachen, als sie an den Hornisten auf Isas Begräbnis denken musste. Sie schämte sich.
Die Komposition endete mit einem düsteren Finalsatz.
Sachte legte Mette einen viereckigen Gegenstand, der mit einem Stofftaschentuch umwickelt war, auf den untersten Bereich der Klaviatur. Der Gegenstand musste schwer sein, denn er drückte die tiefen Tasten nieder.
Vera rätselte, wofür das gut sein sollte. Als Mette zu spielen begann, wurde es ihr klar. Die blockierten Töne klangen mit. Es handelte sich also um einen raffinierten Pedaleffekt, der verschwommene, geisterhafte Klänge erzeugte. Bilder entstanden in Veras Kopf, die zu einem alten Vampirfilm gepasst hätten: ein Friedhof bei Nacht, Nebelschwaden, die zwischen Grabsteinen lungern, eine Krallenhand, die sich von hinten auf die Schulter legt. Der letzte Akkord war ein Schrei, schrill und albtraumhaft. Als er verklungen war, herrschte sekundenlang Stille. Dann tobte das Publikum los. Sogar Gelähmte hätten ihr Handicap überwunden und applaudiert.
Luca sprang auf. »Brava! Bravissima!« , brüllte er.
Mette verbeugte sich und verlor dabei eines ihrer Haarbänder. Mit einer unwirschen Handbewegung löste sie auch das zweite Band. Das Mädchen aus »Hanni und Nanni« verwandelte sich im Handumdrehen in eine schöne junge Frau. Sie setzte sich nochmals an den Flügel, um sich mit einer Zugabe für den Applaus zu bedanken.
Wie aus dem Nichts tupfte sie schwebende Harmonien im Pianissimo auf die Klaviatur. Sie verbanden sich zu einer Art modernem Choral, dessen Dissonanzen überraschende Wendungen erfuhren und sich in einen schwebenden Septakkord auflösten. Während Mettes Rechte die bizarren Akkorde fortsetzte, federte die Linke einen Rhythmus aus den Tasten. Es begann swingend, wurde allmählich härter, beinahe rockig und entwickelte sich zu einem ekstatischen Stampfen. Mettes Hände schwebten, flogen, jagten einander und packten zu. Das kurze Stück fegte durch den Saal und hinterließ Menschen mit offenen Mündern. Am Schluss knisterte die Luft vor Spannung. Wie auf ein unsichtbares Kommando erhoben sich die Zuhörer und brachten der Pianistin Standing Ovations dar. Mette nahm sie entgegen wie eine Königin.
»Was war das für ein Stück?« Vera musste beinahe schreien, um das Geklatsche zu übertönen.
Luca schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Aber es war geiler als jede Improvisation von Keith Jarrett.«
Nach dem Konzert drängten die meisten Leute zur Garderobe. Nur eine kleine Schar von Gratulanten wartete auf Mette; Luca und Vera gesellten sich zu ihnen. Endlich kam die Künstlerin aus einem Nebenraum. Nicht der Ansatz eines Schweißflecks war unter ihren Achseln zu sehen. Das himmelblaue Kleid sah wie frisch gebügelt aus, als hätte Mette sich gerade für einen Sonntagsspaziergang mit Oma und Opa herausgeputzt. Vera ging mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.
»Sagenhaft! Phänomenal! Herzlichen Glückwunsch!«
»Danke. Freut mich, dass du gekommen bist.«
»Von wem war die Zugabe?«
»Von mir. Hat sie dir gefallen?«
»Hast du etwa improvisiert?«
»Nein, es ist eine Komposition. Mein Opus eins.« Mettes Mund verzog sich zu einem Lächeln, das Grübchen in Wangen und Kinn zeichnete. »Ich bin noch nicht ganz zufrieden damit.«
»Das solltest du aber sein.«
Vera wollte sich verabschieden, aber Mette hielt sie zurück. »Wie wär’s, wenn wir morgen mal deine Lieder proben?«
»Oh, die muss ich erst einstudieren.«
»Oder hast du Lust auf einen Kaffee?«
»Gern. Sagen wir um drei?«
»Um drei im Café Central.«
Luca schob Vera zur Seite. Er ließ eine Lobeshymne auf Mette niederprasseln, umarmte sie und wollte sie gar nicht mehr loslassen. Dann sprach er auf sie ein wie ein Wasserfall. Sie müsse unbedingt ins Blue Note kommen und mit ihm vierhändig improvisieren. Er küsste sie auf beide Wangen und steckte ihr eine Visitenkarte zu.
Was für ein Idiot!
Mette
Weitere Kostenlose Bücher