Tod in Innsbruck
bereits zu dämmern. Obwohl sie nach der stundenlangen Balgerei müde war, wollte sie nicht neben Robert einschlafen. Es durfte nicht sein. Mehr als einmal hatte sie im Lauf der Nacht das Bedürfnis verspürt, sich fallen zu lassen, in seiner Umarmung zu versinken, nichts mehr zu denken. Es hatte sich so anders angefühlt als die flüchtigen Beziehungen der vergangenen Jahre, der schnelle Sex, der manchmal schal, manchmal heiß gewesen war und nichts darüber hinaus.
Richtig. Es hat sich richtig angefühlt.
Aber das war es nicht. Sie musste dafür sorgen, dass der Missbrauch an Isa aufgedeckt wurde, musste ihren Lebensunterhalt bestreiten und sich auf das Gesangsstudium vorbereiten. Für eine Beziehung blieb keine Zeit.
Hoffentlich würde Robert das verstehen.
Ich hätte nicht mitkommen dürfen.
Und doch, sie bereute nichts.
Auf leisen Sohlen schlich sie in die Küche. Sie fand einen Block und einen Bleistiftstummel. Rasch kritzelte sie eine Notiz, legte den Zettel neben die Teekanne. Dann warf sie einen letzten Blick auf Robert, der sich inzwischen wieder auf den Rücken gedreht hatte. Er atmete tief und ruhig. Auf seinen Lippen lag ein Lächeln.
Vera riss sich los.
Keine Schwachheiten. Keine Sentimentalitäten.
Sie fröstelte, als sie die Wohnung verließ und in den kühlen Hausflur hinaustrat. Mit einem trockenen Klicken fiel die Tür ins Schloss.
* * *
Robert erwachte mit einem Prickeln im Bauch, das er zunächst nicht einordnen konnte. Aber es fühlte sich unwahrscheinlich gut an. Als die Erinnerung an die vergangene Nacht zurückkam, wusste er, dass es sich dabei um die berühmten Schmetterlinge handeln musste.
Er schlug die Augen auf. Der Platz neben ihm war leer. Er vergrub die Nase im Kissen und sog ihren Duft ein, eine zarte, herbe Note. Mit beiden Beinen sprang er aus dem Bett.
»Vera?«
Er fand sie nicht im Bad und auch nicht in der Küche. Als er den Zettel neben der Teekanne sah, beschleunigte sich sein Puls. Mit zitternden Fingern griff er danach.
Bitte komm nicht mehr ins Blue Note. Es ist besser, wenn wir uns nicht wiedersehen.
Viel Glück,
Vera
Sein Magen krampfte sich zusammen. Er drehte den Zettel, suchte auf der Rückseite nach einer Erklärung. Nichts.
Warum? Wieso? War er so ein schlechter Liebhaber gewesen? Er hätte sich zumindest für durchschnittlich gehalten. Und ihr Zerfließen, ihre Hingabe, hatte er sich das alles nur eingebildet?
Ich hätte nicht einschlafen dürfen.
Ob sie deswegen enttäuscht war? Oder war ihr letztlich doch Brigittes Auftritt zu nahe gegangen?
Wie ein lästiger Fliegenschwarm umkreisten ihn die Gedanken. Auch das Zerschmettern der nächstbesten Tasse half nicht. Erst als er versehentlich auf eine Scherbe trat und sich daran die Ferse aufschnitt, ließ der Druck in seinem Kopf nach. Mit jedem Tropfen Blut, der aus der Wunde quoll, schien das unbändige Glücksgefühl aus ihm herauszusickern, das er beim Aufwachen erlebt hatte. Und mit jedem Schritt stempelte er seine Enttäuschung in den Küchenboden.
* * *
Obwohl Veras Schuhe drückten, wollte sie nicht auf den Bus warten. Sie lief barfuß quer durch das Klinikareal und schließlich am Innrain entlang bis in die Altstadt. Innsbruck schlief noch. Die Straßen waren leer gefegt, nur ab und zu fuhr ein Auto vorbei. Als sie vom Display ihres Handys die Uhrzeit ablesen wollte, entdeckte sie, dass in der Mailbox eine Nachricht eingegangen war. Bernie. Sie war wieder gesund und wollte sich mit ihr treffen. Am liebsten heute nach der Schule. Gegen halb zwei.
Na endlich. Hoffentlich komme ich jetzt um einen entscheidenden Schritt weiter.
Zu Hause legte Vera sich hin, aber sie konnte nicht einschlafen. Irgendwann gab sie auf. In der Küche roch es nach Kaffee und verbranntem Toast. Anna musterte sie und grinste anzüglich, stellte aber keine Fragen, sondern goss bereitwillig Espresso in Veras Tasse.
»Heute bist du mit Abspülen an der Reihe. Und das Bad wäre auch mal fällig.«
»Geht in Ordnung.«
Die Arbeit machte fast Spaß. Zumindest lenkte sie Vera vom Gedankenkarussell ab, das sich ständig um Robert drehte.
Bernie wartete schon, als Vera um halb zwei vor dem Musikgymnasium aufkreuzte. »Du wolltest mit mir reden?«
»Es geht um Isas Tagebuch. Unter ihren Sachen ist es nicht. Weißt du, wo sie es aufbewahrt hat?«
»Vielleicht hast du es übersehen? Im Heim ist es bestimmt nicht mehr.«
»Hat sie es vielleicht unter dem Bett versteckt? Oder oben auf dem
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