Tod in Innsbruck
weiterbrüllt.
Sechs.
Wie ein Erstickender zieht er Luft durch die Nase, versucht gegen die Fesseln anzukämpfen. Die Angst treibt Schweißtropfen auf seine Stirn.
Zehn.
Er bäumt sich auf. Windet sich wie ein Wurm. In seiner Panik hat er nichts Menschliches an sich.
Dreizehn.
Die Muskulatur des Blinden erschlafft. Wie man einen Schalter umlegt, sackt er in sich zusammen und regt sich nicht mehr.
Ich bringe Herbie Hancock zum Verstummen. Der Mann spielt hervorragend, aber ich brauche Ruhe, um mich zu konzentrieren.
Zuerst breite ich das Arsenal meiner Werkzeuge aus: die Betäubungsspritzen, die Skalpelle, die Wattetupfer; Farben, Wundbenzin, Vaseline und das Tätowiergerät.
Dann fette ich seine Brust ein, die so wunderbar glatt ist, dass ich sie nicht rasieren muss. Ich drücke die Blaupause darauf, warte. Ziehe das Papier ab und begutachte gespannt die Umrisse meiner Arbeit.
Phantastisch. Der Tanz der Nadeln kann beginnen.
Zuerst steche ich die Konturen in Schwarz, dann fülle ich die Flächen teils rot, teils grün. Ich komme zügig voran. Zweimal muss ich nachspritzen, weil der Blinde erwacht und zu zappeln beginnt.
Zum Abschluss nehme ich das feine Skalpell und setze einen einzigen Schnitt quer über die Brust. Kein tiefer Schnitt, nur ein oberflächlicher Kratzer in der Haut. Blutströpfchen quellen hervor wie winzige korallenrote Perlen.
Ich wische die überschüssige Farbe und das Blut von der Haut und fotografiere mein Werk.
Ja. Diesmal bin ich zufrieden. Glücklich. Ich habe die erste Stufe auf dem Weg zum Parnass erreicht.
Es dämmert schon. Rasch räume ich meine Sachen in den Rucksack.
Der Blinde beginnt zu stöhnen. Ich nehme seine Brille ab.
Zwei milchigtrübe Augäpfel starren mich an. Wie tote Fischaugen sehen sie aus.
Mitleidig lege ich meine Hände an seine Wangen und spreche ihm mit Nietzsches Worten Mut zu:
»Und wische den Schlaf und alles Blöde, Blinde aus deinen Augen! Höre mich auch mit deinen Augen: meine Stimme ist ein Heilmittel noch für Blindgeborne.
Und bist du erst wach, sollst du mir ewig wach bleiben.«
Ein Gurgeln löst sich aus seiner Kehle. Plötzlich zieht ein stechender Geruch in meine Nase, den ich nur zu gut kenne. Der Arme hat eingenässt.
»Du regst dich, dehnst dich, röchelst? Auf! Auf! Nicht röcheln – reden sollst du mir! Zarathustra ruft dich, der Gottlose!«
Mit dem gebogenen Skalpell schäle ich die milchigen Augäpfel aus ihren Höhlen. Ein Souvenir. Dann erlöse ich den zuckenden Körper. Das Muster, das sein Blut an die Wand zeichnet, sieht wunderbar gottlos aus.
ELF
Vera betrat das Café Central und versuchte, durch den Zigarettenqualm etwas zu erkennen. Ganz hinten an einem Ecktisch entdeckte sie Mette, die lächelte und winkte.
Vera setzte sich zu ihr. »Du warst phänomenal! Ich bin immer noch hin und weg. Aber du siehst blass aus.«
»Ich konnte lange nicht einschlafen. Nach einem Konzert dauert es Stunden, bis das ganze Adrenalin abgebaut ist.«
»Was hat Sofronsky gesagt?«
»Der hat mich gelobt.«
»Das will ich auch hoffen!«
»Ich glaube, ich habe ihn sogar lächeln sehen. Eine Seltenheit. Alles in allem eine geradezu enthusiastische Reaktion.« Mette grinste. Sie wirkte heute noch erwachsener und selbstbewusster als bei ihrer ersten Begegnung. Der gestrige Erfolg hatte ihr offensichtlich gutgetan.
Aufmerksam musterte sie Vera. »Du wirkst so nachdenklich?«
»Ich habe gestern etwas erfahren, das … das geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Es hat mit meiner Schwester zu tun, die vor Kurzem gestorben ist. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob ich dir das alles erzählen soll.«
»Manchmal hilft es, wenn man Dinge ausspricht.«
»Es ist aber eine lange, unerfreuliche Geschichte. Sie fängt mit Isas Tod an und mit der Vermutung, dass ihre Magersucht einen Grund hatte …«
»Meinst du Isa Meyring, die Pianistin? Bist du ihre Schwester?«
»Du kanntest sie also.«
»Natürlich. Schließlich war sie auch in Sofronskys Klasse.« Mettes Wangen röteten sich. »Nicht dass ich besonders gut mit Isa befreundet gewesen wäre. Aber ich mochte sie. Ihr Tod hat mich schockiert.« Sie senkte die Stimme. »Was war denn der Grund für ihre Magersucht?«
Vera erzählte Mette von dem Brief und ihrer Schlussfolgerung, dass Isa missbraucht worden war. »Eigentlich bin ich nur nach Innsbruck gekommen, um den Schuldigen zu finden und vor Gericht zu bringen. Doch inzwischen bin ich nicht mehr so sicher, dass es tatsächlich einen
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