Tod in Innsbruck
es wohl das Mindeste, dass ich mir ihr Konzert anhöre.«
»Klassische Musik? Du Arme. Hoffentlich schläfst du nicht ein.«
Eine halbe Stunde später stand Vera an der Kasse des Tiroler Landesmuseums und nahm die Freikarte entgegen, die Mette für sie hinterlegt hatte.
Das Konzert fand im zweiten Stock statt, in einem Schauraum, der mit düsteren Bildern aus dem 19. Jahrhundert bestückt war. In der Mitte des Raumes stand ein Flügel. Nicht glattschwarz und glänzend wie die modernen Instrumente, sondern aus gemasertem Holz, vermutlich Mahagoni, und reich verziert mit Bronzebeschlägen.
Die siebzig oder achtzig Stühle waren im Halbkreis um das Klavier aufgestellt und wirkten irgendwie fehl am Platz. Als schämten sie sich dafür, dass das Tiroler Landesmuseum zwar ein prachtvolles historisches Instrument, aber nicht einmal einen eigenen Konzertsaal besaß.
Der Parkettboden knarrte erbärmlich, als Vera eintrat. Sie betrachtete eines der Bilder näher.
»Franz von Defregger: Speckbacher und sein Sohn Anderl.«
Speckbacher, das war offensichtlich der schnauzbärtige Held in der Bildmitte, stand breitbeinig in einer Gaststube, eine Pistole im Gürtel. Er blickte stolz auf seinen Sohn, den ein alter Mann in die Stube führte. Beide, der Alte und das Kind, hatten ein Gewehr umgehängt. Dahinter drängten sich weitere markige Männer, manche beugten sich über Papierrollen, als planten sie etwas, vermutlich einen Aufstand. In ihren kantigen Gesichtern spiegelte sich edle Einfalt, wobei Vera nicht genau wusste, was an Einfalt edel sein mochte. Die einzige Frau hielt sich im Bildhintergrund, in ein Buch vertieft, das ihrem demütigem Blick zufolge die Bibel sein musste, während das Mädchen an ihrem Schürzenzipfel bewundernd zu Anderl aufblickte. Über dem ganzen Bild waberte eine Aura von Patriotismus, süßlich und stechend wie Schweißgeruch.
Vera wandte sich ab.
Die meisten Stühle waren schon besetzt. Sie entdeckte einen freien Platz in der zweiten Reihe. Rasch quetschte sie sich an einer dicken Dame vorbei und setzte sich. Als sie bemerkte, neben wem sie sich niedergelassen hatte, zuckte sie zusammen.
»Luca?! Was machst du denn da?«
» Carissima! Ische bin entsückt zu hören deine Stimme.«
»Sprich Deutsch. Ich weiß, dass du es kannst. Deinen Pizzawerbungsakzent finde ich zum Kotzen.«
Musste er ihr ausgerechnet heute über den Weg laufen? Sie wusste immer noch nicht, was sie von ihm und von der Geschichte mit Isa halten sollte.
»Seit wann interessierst du dich für Klassik?« Viel lieber hätte sie ihn gefragt, ob er etwas mit ihrer Schwester gehabt hatte, aber das war nicht der richtige Moment.
»Ich habe Klassik studiert. Meine Mutter wollte einen zweiten Maurizio Pollini aus mir machen.« Er lachte. »Erst mit zwanzig habe ich mich dagegen aufgelehnt. Habe Pollini von meinem persönlichen Altar gestoßen und durch Keith Jarrett ersetzt.«
Das Licht wurde gedämpft, die Plaudereien verebbten.
Mette trat auf. Ihr himmelblaues Kleid hatte dieselbe Farbe wie die Schleifchen, die ihre beiden weißblonden Zöpfe zusammenhielten.
Während sie den Klavierstuhl zurechtrückte, schielte Vera in das Programmheft der dicken Dame neben ihr.
»Ludwig van Beethoven: Sonate in C-Dur op. 53, dem Grafen Ferdinand von Waldstein gewidmet . «
Die Musik stahl sich in den Raum wie ein leises Klopfen. Sanft, aber unerbittlich. Aus den kargen Ausgangsklängen errichtete Mette behutsam ein tragfähiges Bauwerk, ein Monument aus Tönen. Klar, logisch, konsequent.
Vera lauschte gebannt. Obwohl Isa eine außergewöhnlich talentierte Pianistin gewesen war, hatte man ihren Interpretationen doch eine gewisse Naivität angemerkt. Mette spielte mit ihren sechzehn Jahren so reif und ausdrucksstark wie eine Frau, die Lust, Leid, Liebe und Tod in allen Spielarten erlebt hatte.
Dass sie dabei aussah, als wäre sie einem von Enid Blytons Mädchenbüchern entsprungen, ließ das Gehörte noch unglaublicher wirken. Ein Backfisch als Tastentiger.
Die Zuhörer waren verzaubert. Niemand hustete, blätterte im Programm oder raschelte mit Bonbonpapier. Die ganze Aufmerksamkeit gehörte der Virtuosin und ihrer Musik. Sogar das Atmen schien kollektiv vor sich zu gehen und sich nach Mettes Phrasierung zu richten.
Auf die Waldsteinsonate folgten zwei Impromptus von Schubert, die Leichtigkeit und Spielfreude verströmten; Wiener-Walzer-Charme, gepaart mit einem Hauch jener Todessehnsucht, die man den Ostösterreichern
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