Tod in Innsbruck
Kleiderschrank?«
»Auf keinen Fall. Da hätte es längst eine der Putzfrauen gefunden.«
Vera seufzte. Sie schüttelte den Kopf. »Ich versteh das nicht. Irgendwo muss das Tagebuch doch sein.«
Bernie zuckte mit den Schultern.
»Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass du mehr weißt, als du sagen willst?«
Bernies Wangen fleckten sich kirschfarben. Sie presste die Lippen zu dünnen Linien.
»Wer war es? Wer hat Isa missbraucht?« Vera fauchte das Mädchen an und schüttelte es am Arm.
Bernie riss sich los. Tränen standen in ihren Augen.
»Ich weiß es nicht. Sie hat mir ja nichts erzählt. Ich weiß nur, dass sie in den letzten Monaten abends öfter weg war. Die halbe Nacht lang.«
»Das hätte der Heimleiter nie zugelassen.«
»Wir haben unsere Tricks. Und er ist nicht der Oberchecker.«
»Aber Isa hätte nie …«
»Frag mich nicht, wenn du die Wahrheit nicht hören willst!«, schrie Bernie. Jetzt liefen die Tränen mehrspurig über ihre Wangen.
Vera versuchte, sie zu beruhigen. »Also gut. Dann erzähl mir, wie es war.«
»Einmal bin ich Isa nachgeschlichen, weil ich wissen wollte, was sie treibt. Sie ist in dieses Jazzlokal gegangen, ins Blue Note, und hat den Pianisten angeschmachtet.«
»Luca? Meinst du Luca Briguglia?«
»Ja, den Blinden. Sie haben sich geküsst, und Isa ist mit ihm weggegangen.« Bernie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ich glaube nicht, dass sie missbraucht wurde. Sie hat sich auf eine Affäre eingelassen, und irgendwann hat sie es bereut. Vermutlich hat sie deshalb nichts mehr gegessen.« Sie drehte sich um und ließ Vera einfach stehen.
Den restlichen Nachmittag verbrachte Vera grübelnd. War es möglich? Isabel, allabendlich im Blue Note? Wie sie einen Mann anhimmelte, der mehr als doppelt so alt war wie sie? Sie hatte doch immer nur Musik im Kopf gehabt.
Je mehr Vera darüber nachdachte, umso weniger konnte sie es glauben. Das passte so gar nicht zu dem Bild vom naiven und weltfremden Nesthäkchen. Vom fleißigen Wunderkind, das sich immer bemüht hatte, es allen recht zu machen. Besonders Mutter.
Und doch. Weshalb sollte Bernie so eine haarsträubende Geschichte erfinden?
Sie selbst hatte mit sechzehn alles Mögliche ausprobiert. Das Bild eines rothaarigen jungen Mannes tauchte vor Veras innerem Auge auf, ein reichlich verschwommenes Bild. Sie hatte ihre erste große Liebe erfolgreich verdrängt. Oliver hatte ihr Nachhilfe in Mathe gegeben, um sich den Führerschein zu finanzieren. Sie lernte einiges von ihm, allerdings auf anderem Gebiet. Oliver träumte davon, Pilot zu werden. Wochenlang flogen sie gemeinsam. In seinem Bett. Auch der Absturz blieb Vera nicht erspart. Wegen Olivers Kunststoffallergie kamen Kondome nicht in Frage. Dann war er schneller weg gewesen, als sie das Wort »Schwangerschaft« aussprechen konnte.
Nach der Abtreibung war Vera durch die Hölle gegangen. Aber letztlich hatte die Enttäuschung sie härter und stärker gemacht. War Isa etwas Ähnliches passiert? Und war sie – weit weniger robust als Vera – an ihrer ersten unglücklichen Liebe zerbrochen?
Vera zuckte zusammen, als ihr jemand an die Schulter tippte.
»Bist du okay?«, fragte Anna. Eine Mischung aus verschiedensten Parfums, die sich in ihrem Haar und ihren Kleidern festgesetzt hatten, brach über Veras Geruchsrezeptoren herein.
»Du siehst aus wie jemand, der eine Prüfung vermasselt hat.«
»Angenommen du hättest eine Schwester. Oder eine gute Freundin, die du seit Jahren kennst. Du hast ein genaues Bild von ihr, das Bild von einem Musterkind. Sie ist fleißig, schüchtern, kindlich.« Vera fixierte den Leberfleck über Annas linkem Mundwinkel. »Und dann erzählt dir jemand, dass sie täglich ausgeht, einem doppelt so alten Mann hinterherläuft und die Nächte mit ihm verbringt. Würdest du das glauben?«
»Möglich ist das natürlich. Stille Wasser sind tief, heißt es. Und du kannst auch in den Kopf deiner besten Freundin oder Schwester nicht hineinschauen.«
Vera wiegte den Kopf. »Stimmt, das kann man nicht.«
»Musst du heute Abend arbeiten?«
»Heute ist mein freier Tag.«
»Komm doch mit ins Kino. Ich weiß zwar nicht, wer oder was dir in den Kaffee gespuckt hat, aber ich glaube, du könntest ein bisschen Ablenkung vertragen.«
»Ein anderes Mal. Ich hab schon was vor.«
Anna hob die Brauen und grinste schief.
»Nicht, was du denkst. Ein Klavierabend. Die Pianistin hat versprochen, mich bei meiner Aufnahmeprüfung zu begleiten. Da ist
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