Tod in Innsbruck
diesem Klassenabend ihre Diplomprüfung abgelegt hat. Danach ist sie angeblich nach Amerika gegangen. Frag doch im Sekretariat nach.«
»Die dürfen die Adressen nicht einfach an x-beliebige Leute weitergeben. Ich bin noch nicht mal inskribiert.«
»Halt, ich hab eine Idee!« Vor Begeisterung schlug Mette die Hände zusammen. »Alle Daten sind auf den Schülerblättern verzeichnet. Auch die Adressen der Eltern. Sofronsky verwahrt die Schülerblätter in seinem Schreibtisch, in der Akademie. Bestimmt auch die der Ehemaligen. Wenn du willst, könnte ich mal nachsehen.«
»Kommt nicht in Frage. Ich möchte dich da nicht reinziehen.«
»Es wäre ganz einfach. Um ein Uhr macht er immer Mittagspause, eine Dreiviertelstunde lang. In der Zeit lässt er sein Zimmer unversperrt, damit seine Studenten dort üben können.«
»Toller Tipp. Ich werde mich selbst umsehen. Lass du bitte die Finger davon. Du hast mir schon sehr geholfen, Mette.«
»Ach was, nicht der Rede wert.«
Vera betrachtete den hellen Flaum in Mettes Nacken. »Und was denkst du jetzt über deinen Lehrer?«
»Was für ein Widerling! Dabei hat er sich mir gegenüber immer korrekt verhalten. Ich hoffe, du erreichst dein Ziel und er wird verurteilt.«
»Und ich habe schon befürchtet, deine Welt bricht zusammen, wenn ich am Ruf deines verehrten Lehrers kratze.«
Mette grinste. »Keine Sorge. Ich schätze ihn zwar als Lehrer und bin dankbar für alles, was ich bei ihm gelernt habe. Aber ich bewundere ihn nicht kritiklos. Und in letzter Zeit schwächelt er ein bisschen.« Sie spielte eine Tonleiter. Wie modelliert traten Adern und Knöchel des Handrückens hervor und kündeten davon, dass es sich um keine gewöhnliche Hand handelte, sondern um das Instrumentarium einer Hochleistungssportlerin. »Er kritisiert kaum etwas an meinem Spiel, und wenn, dann ist es an den Haaren herbeigezogen. Vielleicht ist es Zeit, dass ich mir einen anderen Lehrer suche.«
Vera zog ihre Brauen hoch. Was für ein Wandel! Vor Kurzem hatte Mette noch in den höchsten Tönen von Sofronsky geschwärmt. Umso besser, wenn sie ihn kritisch sah. Jetzt wusste sie jedenfalls Bescheid und war bestimmt auf der Hut. Vera packte ihr Liederalbum von Schumann aus und legte es aufs Klavier. »Wollen wir?«
»Gern.« Mette überflog die Noten.
In dem Moment klopfte es. Joyce trat ein.
»Na, meine Süßen? Wie weit seid ihr?«
Um sich die peinliche Antwort zu ersparen, nickte Vera ihrer Begleiterin zu.
Mette spielte. Mit nur drei Akkorden gelang es ihr, die wunderbare Stimmung von erster Verliebtheit und kindlichem Staunen einzufangen.
Vom ersten Ton an wurde Vera durch das Lied getragen.
»Seit ich ihn gesehen, glaub ich blind zu sein …« Ihre Stimme und die Klaviermelodie verschmolzen zu einer untrennbaren Einheit.
»Bravo!«, rief Joyce, als der Schlussakkord verklungen war. »Ihr zwei harmoniert ja wie ein altes Ehepaar.«
Ein Hauch Rosa überzog Mettes Wangen. »Danke, Frau Professor Jameson«, rief sie aus und strahlte.
»Nenn mich Joyce, Honey.« Joyce lächelte ihr vieldeutiges Lächeln.
Dann begann sie zu arbeiten. Takt für Takt ging sie das Lied mit den beiden durch, korrigierte Veras Haltung, die Atmung, sagte wichtige Dinge zu Phrasierung und Dynamik.
Am Ende musste Vera das Lied noch einmal ganz durchsingen. Zu ihrem Erstaunen ließ ihre Stimme sich nun besser kontrollieren, sie reagierte elastischer, wendiger. Die Tipps, die sie gerade bekommen hatte, griffen.
Schließlich bedankte Joyce sich bei Mette und schickte sie nach Hause, um mit Vera allein noch einige Übungen zu machen.
»Was für eine Begabung«, sagte sie, als die Tür sich hinter dem Mädchen geschlossen hatte. »Sie begleitet, als hätte sie dreißigjährige Berufserfahrung.«
»Dabei ist sie sechzehn, sieht aus wie dreizehn und ist ein bisschen wunderlich.« Vera grinste.
»Genie und Verschrobenheit liegen oft nah beieinander. Wie kommst du zu der Ehre, vom Klavierstar des Hauses begleitet zu werden?«
»Keine Ahnung. Ich habe versehentlich ihren Kakao verschüttet und sie zum Ausgleich auf einen Kaffee eingeladen.«
»Du scheinst sie beeindruckt zu haben. Ich glaube fast, sie ist verliebt in dich.«
»Was?« Vera zuckte zusammen. »Blödsinn!«
Joyce lächelte. »Ich täusche mich selten in diesen Dingen. Bei meinem Sohn habe ich auch erkannt, dass er schwul ist, ehe er es selbst wusste.« Schlagartig wurde sie ernst. »Und heute lese ich in der Zeitung, dass Luca, die große Liebe und
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