Tod in Kreuzberg
wollte, über das aber noch nicht gesprochen werden sollte. »Aus PR-Gründen, Sie verstehen?«
Müller reckte seinen knochigen Körper und schüttelte den Glatzkopf im Lehrerzimmer, wo sie sich in eine Ecke zurückgezogen hatten, immer wieder neugierig angestarrt von Paukern, die eintraten, um etwas zu holen, sich an den Konferenztisch zu setzen, um zu schreiben oder zu lesen. An der Wand hing ein Plakat der GEW, das Kinder vor einer Klinkermauer abbildete, darüber in Großbuchstaben der Text: Bildung ist wichtig. Wir haben Anspruch auf Zukunft . Daneben der Stundenplan, ein monströses Gewirr aus Zahlen und Kürzeln.
»Aber er hatte immer wieder, sagen wir mal, Probleme.«
»Welcher Art?«, fragte Dornröschen. »Wissen Sie, wir müssen uns ein genaues Bild machen von ihm. Nachher machen wir ein Riesentamtam, und dann kommt eine … schlimme Geschichte heraus und wird in der B. Z. breitgetreten. Sie kennen das doch.«
Müller nickte. »Ich kann Sie verstehen. Ich freue mich für ihn. Aber da gab es einige Vorfälle, nun ja, sagen wir mal, die nicht so erfreulich waren.«
»Welcher Art?«, fragte Matti.
»Es fing, sagen wir mal, gewöhnlich an. Kleine Prügeleien, Sie kennen das.«
Matti nickte eifrig.
»Man musste dazwischengehen, und dann war es erledigt. Ist Alltag auf dem Schulhof.«
»Klar«, sagte Dornröschen. »Das interessiert heute keinen mehr. Was geschah dann?«
»Tja, dann schloss er sich mit anderen türkischen Jungs zu einer … Gang zusammen. Nun, das ist ziemlich normal. In meiner Jugend gab es das auch. Was es aber nicht gab, ist diese Entwicklung zur Gewalt. Es waren, sagen wir mal, sechs oder sieben, zwei aus meiner Klasse, darunter Ali, die anderen waren älter, schon sechzehn oder siebzehn. Ich habe zum ersten Mal mitbekommen, dass etwas schieflief, als einer von denen auf dem Schulhof ein Messer zückte. Das war Mehmet, nicht Ali.«
»Um was ging es?«, fragte Twiggy.
Müller schien erleichtert, sich darüber auslassen zu können.
»Mehmet hat einem deutschen … obwohl Mehmet ist ja auch Deutscher, also einem, sagen wir mal, deutschen Schüler ohne migrantischen Hintergrund, mein Gott, wie das klingt, etwas weggenommen, ein Handy, einen MP3-Player, ich weiß es nicht mehr.«
»War das normal?«, fragte Matti.
»Leider ja. Diese Bande wurde allmählich kriminell, wenigstens einige von denen. Mehmet war der Schlimmste, Ali hat sich meistens rausgehalten, aber er ist immer mit denen, sagen wir mal, herumgezogen. Ich will ihm ja nichts Böses nachsagen, aber Sie müssen das ja wissen. Und wir wollen ja nicht, dass über unsere Schule was Schlimmes in der Zeitung steht.«
»Genau«, sagte Dornröschen. »Wie war er in der Schule?«
Müller runzelte die Stirn. Es klingelte zum Unterricht, er stutzte, blickte auf seine Armbanduhr und winkte kaum merklich ab. »Das ist das Erstaunliche. Während die anderen in der Gang allmählich versumpften und das Abitur nicht erreichten, hielt Ali durch. Und als er allein in der Abiturklasse war, da hat er richtig losgelegt. Hatte er zuvor die Versetzung gerade so geschafft, machte er nun einen Leistungssprung. Er hat ein gutes Abitur geschafft, und wenn er früher angefangen hätte, sich auf die Schule zu konzentrieren, dann wäre er noch besser gewesen.« Er wiegte seinen Kopf.
»Was hat er nach der Schule gemacht?«, fragte Twiggy.
»Das Letzte, was ich gehört habe, ist, dass er leider nicht studiert hat. Angeblich wollten die Eltern, also der Vater, das nicht, weil er den Gemüseladen übernehmen sollte.«
»Der dann plattgemacht wurde«, sagte Matti.
Müller schaute ihn verwirrt an.
»Er wurde vertrieben aus dem Gräfekiez«, sagte Dornröschen. »Mietsteigerung nach Sanierung, das Übliche.«
»Und es gibt ja viele türkische Gemüseläden, da konnte er kaum die Preise anpassen«, ergänzte Twiggy.
Müller nickte traurig.
»Was waren die Lieblingsfächer von Ali?«, fragte Dornröschen.
»Leider nicht meine«, sagte er und lächelte. »Er hat eine außerordentliche Begabung für Naturwissenschaften, für Physik und Chemie besonders.«
»Glauben Sie, dass er eine Bombe bauen könnte?«, fragte Matti.
Müller lächelte, dann fror das Lächeln ein. »Sie kommen wirklich von der IHK?«
13: Don’t Let Me Down
S ie saßen in Mattis Taxi vor dem Haus, in dem die Göktans wohnten. Am Nachmittag waren sie schnell aus der Schule verschwunden, verfolgt von einem verwunderten, dann empörten Blick von Wolfgang Müller. Nun wussten sie,
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