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Tod in Lissabon

Tod in Lissabon

Titel: Tod in Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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beklagen. »Ai Mãe, coitadinha« , murmelten sie leise. O Mutter, das arme kleine Ding.
    Vier oder fünf Jungs von der Polícia de Segurança Pública der Schutzpolizei, kurz PSP, unterhielten sich, den blutigen Schauplatz ignorierend, mit zwei Beamten der Polícia Marítima, der Hafenpolizei. Ich stellte mich vor und fragte, wer die Leiche gefunden hatte. Sie wiesen auf einen Fischer, der ein Stück abseits auf der Hafenmauer saß. Die Leiche lag oberhalb des harten Sands, der den höchsten Stand der Flut kennzeichnete, sodass sie nicht angespült worden sein konnte, sondern von ungefähr der Stelle, an der ich jetzt stand, von der Hafenmauer geworfen worden und drei Meter in die Tiefe gestürzt sein musste.
    Die Polícia Marítima gab sich damit zufrieden, dass die Leiche nicht angeschwemmt worden war, wollte jedoch eine gerichtsmedizinische Bestätigung, dass die Tote kein Wasser in der Lunge hatte. Sie erteilten mir die Erlaubnis, mit meinen Ermittlungen zu beginnen. Ich befahl den Jungs von der PSP, die Hafenmauer zu räumen und die Schaulustigen auf die Straße zurückzudrängen.
    Der Polizeifotograf stellte sich vor, und ich wies ihn an, auch Bilder von der Mauer herunter zu machen.
    Der nackte Körper des Mädchens war in der Hüfte verdreht, ihre linke Schulter im Sand vergraben. Ihr Gesicht hatte nur einen einzigen Kratzer auf der Stirn abbekommen, und sie starrte aus weit offenen Augen nach oben. Sie war jung, ihre Brüste waren noch rund und fest, unterhalb des Brustkorbs zeichneten sich ihre Muskeln deutlich ab, und sie hatte einen kleinen Bauchansatz. Ihre Hüften lagen flach auf dem Sand, das linke Bein ausgestreckt, das rechte am Knie abgewinkelt, die Ferse dicht an ihrem Po, die rechte Hand hinter dem Körper abgespreizt. Ich schätzte sie auf unter sechzehn und konnte verstehen, warum der Fischer nicht hinuntergestiegen war und sie auf Lebenszeichen untersucht hatte. Bis auf die Platzwunde war ihr Gesicht blass, die Lippen waren violett angelaufen, die strahlend blauen Augen leer. Fußspuren um die Leiche herum waren nicht zu erkennen. Ich ließ den Fotografen hinabsteigen und seine Nahaufnahmen machen.
    Der Fischer erklärte mir, dass er um halb sechs auf dem Weg gewesen sei, seinen Schuppen zu reparieren, als er die Leiche gesehen habe. Er hatte gleich erkannt, dass das Mädchen tot war, und war nicht zum Strand, sondern direkt die Avenida Marginal hinuntergelaufen, vorbei am Bootsschuppen des Clube Desportivo zum Direcção de Faróis, von wo aus man die Polícia Marítima alarmiert hatte.
    Ich kniff mir ins Kinn und spürte Haut statt Haare. Verwirrt betrachtete ich meine Hand, als wäre sie in irgendeiner Weise dafür verantwortlich. Ich brauchte neue Marotten für mein Gesicht. Ich brauchte eine neue Aufgabe für mein neues Leben.
    Totes Mädchen am Strand, kreischten die Möwen.
    Vielleicht machte meine Blöße mich empfindsamer für die Kleinigkeiten des Alltags.
    Die Gerichtsmedizinerin traf ein, eine kleine dunkle Frau namens Fernanda Ramalho, die Marathon lief, wenn sie nicht gerade Leichen untersuchte.
    »Ich hatte Recht«, sagte sie, wieder an mich gewandt, nachdem ich ihr Carlos Pinto vorgestellt hatte, der sich alles auf einem Notizblock notierte.
    »Das haben gute Gerichtsmedizinerinnen immer, Fernanda.«
    »Sie sind attraktiv. Es gab auch Stimmen, die vermutet haben, dass Sie mit Ihrem Bart ein weiches Kinn kaschieren.«
    »Glaubt heutzutage jeder, dass Männer sich Bärte wachsen lassen, um etwas zu verstecken?«, gab ich zurück. »Als ich jung war, hatte jeder einen Bart.«
    »Aber warum lassen Männer sich Bärte wachsen?«, fragte sie, ehrlich ratlos.
    »Aus demselben Grund, aus dem Hunde sich die Eier lecken«, sagte Carlos, den Stift gezückt. »Weil sie es können.«
    Fernanda zog fragend eine Augenbraue hoch.
    »Es ist sein erster Tag«, sagte ich, was ihn wieder ärgerte. Zweimal in nicht mal einer Stunde. Der Junge hatte mentale Gürtelrose. Fernanda trat einen Schritt zurück, als könnte er ausschlagen. Warum hatte Narciso mir nicht erzählt, dass der Kleine nicht stubenrein war?
    Der Fotograf machte die letzten Nahaufnahmen, und ich nickte Fernanda zu, die mit geöffneter Tasche und übergestreiften Silikonhandschuhen wartete.
    »Überprüfen Sie Ihre Vermisstenliste«, sagte ich zu Carlos, der sich ein wenig zurückgezogen hatte. »Schauen Sie nach, ob wir ein fünfzehn- bis sechzehnjähriges Mädchen haben, blonde Haare, blaue Augen, ein Meter fünfundsechzig groß,

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