Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tod in Lissabon

Tod in Lissabon

Titel: Tod in Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
Vom Netzwerk:
wollte?«
    »Sein Name ist Carlos Pinto«, sagte er, ohne auf meine Frage einzugehen. »Ich möchte, dass er Ihren Ansatz kennen lernt, Ihre ganz spezielle Methode. Sie wissen, dass Sie ein Talent haben, Menschen zum Reden zu bringen. Ich möchte, dass er sieht, wie Sie arbeiten.«
    »Weiß er, wohin er kommen soll?«
    »Ich habe ihm gesagt, er soll Sie in dieser kommunistischen Kneipe treffen, die Sie so lieben. Er bringt einen aktuellen Ausdruck der Vermisstenliste mit.«
    »Wird er mich erkennen?«
    »Ich habe ihm gesagt, er soll Ausschau halten nach einem Mann, der sich nach gut zwanzig Jahren den Bart abrasiert hat. Ein interessanter Test, finden Sie nicht auch?«
    Die Verbindung brach endgültig zusammen. Er hatte es gewusst. Narciso hatte es gewusst. Alle hatten es gewusst. Selbst wenn ich leicht wie ein Insekt gewesen wäre, hätte die Waage immer noch zweiundachtzig Kilo angezeigt. Heutzutage kann man keinem mehr vertrauen, nicht der eigenen Tochter, nicht der Verwandtschaft und nicht einmal der Kriminalpolizei.
    Ich duschte und trocknete mich vor dem Spiegel ab. Alte Augen und ein neues Gesicht sahen mich an. Nachdem ich gerade die Grenze zu vierzig überschritten hatte, war ich möglicherweise zu alt für eine derartige Veränderung, trotzdem sah ich, wie meine Frau immer vermutet hatte, ohne Bart fünf Jahre jünger aus.
    Das Sonnenlicht begann den Ozean blau einzufärben, den ich aus dem Badezimmerfenster so eben sehen konnte. Ein Fischkutter schob sich durch die Wellen, und zum ersten Mal in diesem Jahr verspürte ich eine ebensolche Welle der Hoffnung, ein Gefühl, als könnte heute der erste Tag eines anderen Lebens sein.
    Ich zog ein langärmeliges (kurze Ärmel sind würdelos) weißes Hemd, einen hellgrauen Anzug und feste schwarze Schuhe an und wählte eine von den dreißig Krawatten aus, die Olivia für mich gemacht hatte, eine eher gedeckte, die ein Gerichtsmediziner nicht gleich in eine Petrischale legen wollen würde. Auf dem Absatz der heruntergekommenen Treppe blieb ich stehen und fühlte mich kurz wie ein Mann, dem man aufgetragen hatte, alleine einen Konzertflügel ins Erdgeschoss zu tragen.
    Ich verließ das verfallende Haus, das ich von meinen Eltern geerbt hatte, und machte mich auf den Weg zum Café. Der Putz der von Bougainvillea überwucherten Gartenmauer bröckelte ab. Ich nahm mir vor, das Chaos seinen Lauf nehmen zu lassen.
    Aus dem Stadtpark warf ich noch einmal einen Blick zurück auf das Häuschen in dem verblassten Rosa, dessen Fensterläden längst alle Farbe verloren hatten, und dachte, dass ich mir, müsste ich nicht hingehen und erschlagene und gemetzelte Leichen inspizieren, einreden könnte, ich wäre ein Graf im Ruhestand, der nicht an sein Geld herankam.
    Ich war nervös, und fast wünschte ich mir, dass ich mit meinem nackten Gesicht nicht als Erstes einem fremden Menschen begegnen müsste – all das gegenseitige Taxieren, die Höflichkeit … und nicht einmal eine Maske.
    Eine Gruppe von Pfefferbäumen flüsterte sich raschelnd etwas zu wie Eltern, die ihre Kinder nicht aufwecken wollen. Auf der anderen Seite kurbelte António, der nie schlief und, wie er mir erzählt hatte, auch schon seit 1964 nicht mehr geschlafen hatte, die rote Markise herunter, auf der nur der Name seines Lokals und keine Reklame für Bier oder Kaffee prangte.
    »Ich hatte dich nicht vor Mittag erwartet«, sagte er.
    »Ich auch nicht«, erwiderte ich. »Aber wenigstens hast du mich erkannt.«
    Ich folgte ihm ins Innere der Bar, und er schaltete die Kaffeemühle ein, ein Geräusch, als würde jemand mit Stahlwolle über meine Augenlider kratzen. Das Polaroid vom gestrigen Abend hing bereits an der Wand mit Andenken und Erinnerungsfotos. Ich erkannte mich zuerst gar nicht. Der jung aussehende Typ zwischen dem dicken Mann und dem hübschen Mädchen. Nur dass Olivia auch nicht besonders mädchenhaft aussah, sondern mehr … mehr wie …
    »Ich dachte, du hättest heute frei«, sagte António.
    »Hatte ich auch, aber am Strand ist eine Leiche gefunden worden. War schon jemand hier?«
    »Nein«, sagte er und blickte in die grobe Richtung des Strands. »Angeschwemmt?«
    »Die Leiche? Weiß nicht.«
    In der Tür stand plötzlich ein junger Mann in einem dunklen Anzug mit Ärmeln bis über die Handgelenke, der noch zu Salazars Zeiten geschneidert worden war. Unbeholfen, als träte er zum ersten Mal im Fernsehen auf, ging er zum Tresen und bestellte eine bica , den kleinen Schuss Koffein, der jeden

Weitere Kostenlose Bücher