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Tod in Lissabon

Tod in Lissabon

Titel: Tod in Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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zuckten über den Rand der Brille hinweg.
    Für den Vater eines fünfzehnjährigen Mädchens war er alt – Ende sechzig oder noch älter, den Falten im Gesicht und am Hals nach zu urteilen. Er beugte sich vor, nahm eine kleine Zigarre aus einem Jadekästchen auf dem Schreibtisch, er leckte seine Lippen und steckte die Zigarre in den Mund.
    »Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«, sagte ich und stellte das Foto zurück ins Regal.
    »Donnerstagabend. Ich habe das Haus in Lissabon Freitag früh verlassen. Ich musste ins Büro, um einen Gerichtstermin vorzubereiten.«
    »Welche Art von Recht praktizieren Sie?«
    »Wirtschaftsrecht. Steuerfälle, Ich habe nie mit Strafverfahren zu tun gehabt, falls Sie das für relevant halten.«
    »Hat Ihre Frau Catarina am Freitag gesehen?«
    »Sie hat sie an der Schule abgesetzt und ist hierher gekommen. Das tut sie an den Sommerwochenenden immer.«
    »Und Catarina kommt von der Schule alleine hierher … mit dem Zug … von Cais do Sodré?«
    »Sie ist meistens zwischen sechs und sieben Uhr hier.«
    »Sie wurde gegen neun als vermisst gemeldet.«
    »Ich bin gegen halb neun nach Hause gekommen. Meine Frau war schon seit einer Stunde hier und machte sich Sorgen. Wir haben jeden angerufen, der uns einfiel, und dann bin ich zur Polizei gegangen.«
    »Hat sie irgendwelche engen Freundinnen? Oder einen Freund?«
    »Sie singt in einer Band. Mit den Mitgliedern verbringt sie auch die meiste Zeit«, sagte er und lehnte sich mit seinem Kaffee zurück. »Freunde? Nicht dass ich wüsste.«
    »Ist das eine Schul-Band?«
    »Die anderen sind alle auf der Universität. Zwei Jungen – Valentim und Bruno – und ein Mädchen. Das Mädchen heißt … Teresa. Ja. Teresa.«
    »Und alle sind deutlich älter als Catarina.«
    »Die Jungen müssen so um die zwanzig sein, bei dem Mädchen weiß ich es nicht. Sie ist wahrscheinlich genauso alt, aber das ist schwer zu sagen, weil sie immer schwarze Kleider und lila Lippenstift trägt.«
    »Wir brauchen sämtliche Angaben«, sagte ich, und Dr. Oliveira griff nach einem Block und begann, sein Adressbuch durchzublättern. »Ist sie Ihr einziges Kind?«
    »Aus dieser Ehe, ja. Ich habe noch vier erwachsene Kinder. Teresa …« Er ließ den Namen mit dem Rauch seiner Zigarre verwehen, und sein Blick huschte zu einem Foto auf seinem Schreibtisch.
    »Ist das Ihre momentane Ehefrau?«, fragte ich und folgte seinem Blick zu dem Foto, das seine vier Kinder aus der vorhergehenden Ehe zeigte.
    »Meine zweite Frau«, sagte er. »Catarina ist ihr einziges Kind.«
    »Ist Ihre Frau da, Senhor Doutor?«, fragte ich.
    »Sie ist oben. Sie fühlt sich nicht wohl. Sie schläft. Sie nimmt … sie hat ein Schlafmittel genommen. Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee wäre …«
    »Neigt sie zu Nervosität?«
    »Wenn es um Catarina geht und darum, dass ihre einzige Tochter die ganze Nacht vermisst wird und sie dann morgens als Erstes einen Anruf von der Polícia Judiciária bekommt, dann neigt sie in der Tat …«
    »Wie würden Sie ihre derzeitige Beziehung beschreiben? Die Ihrer Frau zu Catarina.«
    »Was?«, fragte er und blickte zu Carlos, als könnte der eine derartige Frage näher erläutern.
    »Es ist nicht immer eine einfache Beziehung – Mutter und Tochter.«
    »Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen«, sagte er mit einem hüstelnden Lächeln.
    »Das chinesische Schriftzeichen für ›Zwietracht‹ stellt zwei Frauen unter demselben Dach dar.«
    Dr. Aquilino Oliveira stützte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab und musterte mich aus dunkelbraunen Augen über den Rand seiner Brille hinweg.
    »Sie ist noch nie zuvor ohne ein Wort weggelaufen«, sagte er leise.
    »Heißt das, dass es Meinungsverschiedenheiten gab?«
    »Zwietracht«, sagte er, dem Wort nachsinnend. »Catarina hat ihre Rolle als Frau ausprobiert, ja, ich verstehe, was Sie meinen. Das ist sehr interessant.«
    »Mit ›ausprobieren‹ meinen Sie, sexuelle Erfahrungen sammeln, Senhor Doutor?«, fragte ich und begab mich damit auf heikles Gelände.
    »Das war durchaus eine meiner Sorgen.«
    »Meinen Sie, dass sie sich zu weit vorgewagt haben könnte?«
    Der Anwalt atmete ein und sackte auf einer Seite seines Sessels zusammen. War das gespielt oder echt? Es war erstaunlich, wie viele Menschen unter Stress auf das gestische Vokabular von Seifenopern zurückgriffen … aber ein Anwalt seines Kalibers?
    »Im letzten Sommer hatte Teresa, meine Frau, an einem ganz gewöhnlichen Freitag etwas in unserem Haus

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