Tod in Lissabon
denke, wir sollten, wenn möglich, jetzt mit Ihrer Frau sprechen.«
»Es wäre besser, wenn Sie später wiederkämen«, sagte er, riss ein Blatt Papier ab und gab es mir. »Meine Handy-Nummer steht auch drauf, falls Sie irgendwas hören.«
»Sie haben Ihrer Tochter viele Freiheiten gelassen, könnte Sie zu den Santo-António-Feiern gegangen sein, ohne Ihnen Bescheid zu sagen?«
»Freitagabends essen wir immer zusammen, und hinterher geht sie gern in die Bars von Cascais.«
Wir verabschiedeten uns. Er begleitete uns nicht zur Tür. Das Dienstmädchen beobachtete uns vom Ende des Flurs. Draußen war es heißer als in dem kühlen Haus. Wir setzten uns ins Auto und kurbelten die Fenster herunter. Ich starrte auf den Platz jenseits der Bäume und sah nichts.
»Hätten Sie es ihm nicht sagen sollen?«, fragte Carlos. »Ich finde, Sie hätten es ihm sagen müssen.«
»Ein komplexes Individuum, der Anwalt, meinen Sie nicht auch?«
»Seine Tochter ist tot. «
»Ich hatte einfach das Gefühl, dass wir mehr erfahren könnten, wenn wir es ihm nicht sagen«, erwiderte ich und gab Carlos den Zettel. »Meine Entscheidung.«
Eine Viertelstunde später fuhr der Anwalt mit dunkler Brille in einem feuerroten Morgan-Cabriolet vorsichtig auf die Straße. Wir folgten ihm um den Platz, vorbei an der Festungsanlage, durch das Zentrum von Cascais und zurück auf die Avenida Marginal Richtung Lissabon. Der Tag schien Formen anzunehmen.
»Mal sehen, ob er zum Strand blickt, wenn wir an Paço de Arcos vorbeikommen«, sagte ich.
Carlos sah aus wie ein Astronaut bei den Startvorbereitungen, er wachte mit Argusaugen, doch der Anwalt wandte nicht einmal den Kopf. Er wandte ihn nicht, bis wir Belém erreicht und den Bunker, manchmal auch Centro Cultural genannt, sowie die gotischen Verzierungen des Hieronymus-Klosters passiert hatten. Dann schnellte sein Blick am Schiffsbug des Denkmals der Entdeckungen unvermittelt nach rechts – Henry und seine Männer schauten auf den Rio Tejo, wo sich ein gigantisches Containerschiff in ein längst nicht mehr unbekanntes Meer hinaustastete –, vielleicht galt er auch nur der Blondine in dem BMW, die ihn auf der rechten Spur überholte.
»Und?«, fragte Carlos.
Ich antwortete nicht.
Der Dunst um die Brücke hatte sich gelichtet, die Kräne, mit denen die neue Zugverbindung darunter montiert wurde, grüßten Cristo Rei, die riesige Christusstatue am Südufer, deren ausgebreitete Arme uns daran erinnerten, dass alles möglich war. Ich wusste es. In den letzten zehn Jahren hatte sich Lissabon stärker verändert als in den zweieinhalb Jahrhunderten seit dem Erdbeben.
Die Stadt war wie ein Gebiss gewesen, das zu lange keinen Zahnarzt mehr gesehen hatte. Verfallene Gebäude waren abgerissen, alte Straßen aufgerissen, Plätze umgestaltet, Jahrhunderte von bakteriellem Belag abgekratzt, Fassaden aufgebohrt und mit originalgetreu glänzenden Füllungen aus Beton und Fliesen restauriert, Lücken mit Büros, Einkaufszentren und Apartmenthäusern gefüllt worden. Maulwürfe hatten neue Metro-Tunnel gegraben, ein komplett neues Kabelsystem war in den Wurzelkanälen der Stadt verlegt worden. Neue Straßenanschlüsse waren gebaut, neue Brücken errichtet, der Flughafen erweitert worden. Wir waren die Jacketkronen in Europas iberischem Kiefer. Immerhin können wir jetzt lächeln, ohne dass jemand in Ohnmacht fällt.
Wir fuhren über den löchrigen Asphalt von Alcântara. Eine alte Straßenbahn fuhr klingelnd am Bahnhof Santos vorbei. Rechts tauchten zwischen Containerstapeln und Reklametafeln für Super-Bock-Bier die Rümpfe von Frachtern auf. Links erklommen Büro- und Wohnblocks die Hügel von Lissabon. Am Cais do Sodré drückte ich den Zigarettenanzünder rein, hinter uns zischte eine neue Straßenbahn, eine fahrende Werbung für Kit Kat. Ich zündete die erste Zigarette des Tages an – SG Ultralights –, praktisch so leicht, wie gar nicht zu rauchen.
»Vielleicht fährt er bloß ins Büro«, sagte Carlos, »und erledigt am Samstagmorgen ein wenig Arbeit.«
»Warum spekulieren, wenn wir ihn auf seinem Handy anrufen können?«
»Das ist nicht Ihr Ernst?«
»Nein, das ist nicht mein Ernst.«
Die gelbe Fassade des riesigen Triumphbogens der Terreiro do Paço saugte uns vom Fluss in das Straßengitter der Baixa zwischen dem Castelo de São Jorge und dem Bairro Alto. Die Temperatur erreichte dreißig Grad. Fette, hässliche Bronzeskulpturen lungerten auf dem Platz herum. Der Morgan des Anwalts folgte
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