Tod in Lissabon
mehr Betroffenheit erwartet?«
»Sie nicht?«
»Was ist mit Benommenheit? Manche Menschen sind nach einem traumatischen Erlebnis wie betäubt.«
»Aber er wirkte nicht benommen. Sein Gesichtsausdruck, als er uns gesehen hat, war hellwach, wachsam.«
»Besorgt um sich selbst?«
»Das könnte ich nicht sagen. Ich habe ihn nur von der Seite gesehen, wissen Sie …«
»Sie können mir also nur sagen, was ich denke, wenn sie mich frontal ansehen?«
»Das war bloß Glück, Senhor Inspektor.«
»Wirklich?«, sagte ich, und der Junge lächelte. »Was halten Sie von Dr. Oliveiras Buchhaltung? Der feinen Arithmetik zwischen ihm und seiner Frau?«
»Ich denke, er ist ein gefühlskaltes Schwein.«
»Das sind aber heftige Gefühle, Agente Pinto«, sagte ich. »Was ist Ihr Vater von Beruf?«
»Er war Maschinenschlosser bei LisNave. Er hat auf Schiffen Pumpen eingebaut.«
»Er hat?«
»Die Firma hat einige Aufträge an die Koreaner verloren.«
»Könnte es sein, dass Ihre politische Einstellung links von der Mitte liegt?«
Er zuckte die Achseln.
»Dr. Aquilino Oliveira ist ein ernster Mann«, sagte ich. »Ein hochkalibriges Geschütz … mindestens eine 125-Millimeter-Kanone.«
»War Ihr Vater Oberst bei der Artillerie?«
»Bei der Infanterie. Aber bedenken Sie: Der Anwalt hat ein Leben lang seinen Verstand benutzt. Es ist sein Beruf, seine Intelligenz einzusetzen.«
»Das stimmt, bis jetzt war er uns immer einen Schritt voraus.«
»Sie haben ihn gesehen. Sein Instinkt hat ihm gesagt, die Leiche zu überprüfen. Sein Gehirn ist seinen Emotionen immer voraus, bis … vielleicht, bis er sich erinnert, dass er auch Gefühle haben sollte.«
»Und dann verlässt er den Raum, um sie zu holen.«
»Interessant, Agente Pinto. Ich beginne zu begreifen, warum Narciso Sie zu mir geschickt hat. Sie sind eigenartig.«
»Bin ich das? Die meisten Menschen halten mich für völlig normal. Das heißt: langweilig.«
»Es stimmt, dass Sie bisher noch kein Wort über Fußball, Autos und Mädchen gesagt haben.«
»Ich mag die Art, wie Sie die Ordnung der Dinge sehen, Senhor Inspektor.«
»Vielleicht sind Sie ein Mann von Idealen. So einen habe ich nicht mehr getroffen seit …«
»1974?«
»Ein bisschen später, in dem Durcheinander nach unserer ruhmreichen Revolution gab es eine Menge Ideen, Ideale und Visionen, die sich alle irgendwie totgelaufen haben.«
»Und zehn Jahre später sind wir Mitglied der Europäischen Gemeinschaft geworden. Und jetzt müssen wir nicht mehr alleine kämpfen. Wir müssen nachts nicht mehr schwitzen und grübeln, woher der nächste Escudo kommen soll. Brüssel sagt uns, was wir zu tun haben. Wir stehen auf der Lohnliste, wenn wir …«
»Und ist das so schlimm?«
»Was hat sich denn groß geändert? Die Reichen werden noch reicher. Die Wissenden steigen auf. Natürlich gibt es auch ein bisschen, was bis nach unten durchsickert, aber das ist es ja gerade. Es ist bloß ein Tröpfchen. Wir glauben, dass es uns besser geht, weil wir in einem Opel Corsa herumfahren, dessen Unterhalt unser gesamtes Einkommen auffrisst, während wir bei unseren Eltern wohnen, die uns Essen und Kleidung geben. Ist das Fortschritt? Nein, man nennt es ›Kredit‹. Und wer profitiert davon?«
»So einen Zorn habe ich nicht mehr erlebt, seit … der FC Porto drei Tore gegen Benfica Lissabon geschossen hat.«
»Ich bin nicht wütend«, sagte er und kühlte seine Hand im Fahrtwind. »Nicht so wütend wie Sie.«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich wütend bin?«
»Sie sind wütend auf ihn. Sie denken, er hat seine Tochter ermordet, und er hat Ihnen das beste Alibi genannt, das ein Mann überhaupt haben kann … und darüber sind Sie wütend.«
»Jetzt lesen Sie mein Gesicht schon im Profil. Als Nächstes kommt wahrscheinlich der Hinterkopf.«
»Wissen Sie, was mich ärgert?«, sagte Carlos. »Er tut so, als wäre er irgendein liberaler Denker, aber überlegen Sie mal. Er ist fast siebzig. Den größten Teil seines Lebens muss er unter Salazar gearbeitet haben, und Sie wissen genauso gut wie ich, dass man damals nicht praktizieren konnte, wenn man nicht politisch verlässlich war.«
»Was ist bloß los, Agente Pinto? Ich habe die letzten zwanzig Jahre meines Lebens damit verbracht, nicht an die Revolution zu denken, die Tatsache, dass wir am 25. April einen Feiertag haben, mal ausgenommen. Und nun sind wir kaum einen halben Tag zusammen und haben schon drei- oder viermal darüber geredet. Ich glaube nicht, dass man die
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