Tod in Lissabon
Kollegen ist es Kopfarbeit. Sie haben ihre Verdächtigen, die Indizien, die Aussagen, die Zeugen, die Motive, und sie fügen alles vernünftig zusammen. Das tue ich auch, aber manchmal habe ich auch ein Bauchgefühl, das mir sagt, dass ich richtig liege.
» Boa tarde , haben Sie gestern gegen Viertel nach zwei dieses Mädchen gesehen? Nein. Danke. Adeus. «
Die Leute fragen mich, warum ich diese Arbeit mache, als hätte ich eine Wahl, als könnte ich jetzt damit aufhören, aussteigen und Avantgarde-Dichter in Guatemala werden. Ich bin da hineingeraten, weil es der einzige Job war, den ich finden konnte, als mein Vater und ich uns 1978 zurück ins Land geschlichen haben, und in jenen Tagen war Geld ebenso knapp wie Arbeitsplätze. Als ich nach fünf Jahren in London am Bahnhof Rossio ausstieg, wusste ich, was ich vermisst hatte. Ich nenne es das Getriebe der Armut. In Afrika sieht man es ständig, deshalb habe ich es gleich erkannt. Es ist eine nervöse Hektik, die aufkommt, wenn die Wirtschaft nicht in der Lage ist, das ganze Volk satt zu machen. Es ist der Aktionismus des Hungers, und der ist mittlerweile verschwunden. Die Straßen sind so ruhig wie die jeder anderen europäischen Stadt. Jetzt ist nur noch der Stress übrig, aber das ist nicht dasselbe wie Hunger, das ist nur neurotisch.
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Also mache ich diese Arbeit, weil ich im Laufe der Jahre gelernt habe, daran zu glauben. An die Jagd nach der Wahrheit oder zumindest das Herauskitzeln der Wahrheit. Ich mag die Gespräche. Ich bewundere das natürliche Genie der Menschen zur Täuschung. Wer denkt, Fußballer seien raffinierte Schauspieler, sollte einen Mörder in Aktion erleben. Ein Mörder hat natürlich auch eine Menge Übung, weil er sich jede Minute des Tages selbst belügt. Unsere Gefängnisse sind voller Unschuldiger. Aber das ist das Wesen des Mordes. Er ist die ultimative menschliche Schwäche, die radikalste Lösung der Unfähigkeit, etwas zu lösen, und die Schande dieser Schwäche ist eine Schuld, die man nicht eingestehen kann. Aber die Lügen … die Lügen machen den Job lebendig. Ich bin wie ein Couturier, der die Beschaffenheit eines Stoffes bewundert, die Pracht einer leuchtenden Tapisserie, golden durchwirkten Brokats, dunklen, undurchdringlichen Samts. Doch auch einen leichten, kräftigen Jeansstoff, widerstandsfähigen Drillich oder feste, fein gewebte Popeline sollte man nie unterschätzen. Das heißt nicht, dass ich nicht hin und wieder auch mottenzerfressenen Taft, abgetragenen Flanell oder flattrigen Voile präsentiert bekomme, doch im Laufe der Zeit habe ich schon den Geschmack eines Kenners entwickelt.
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Heute hatte ich beispielsweise schon mehreren Lügnern gegenübergestanden. Dem Anwalt, seiner Frau, dem Liebhaber, dem Psychologiestudenten, dem kleinen neureichen Mädchen, dem Jungen mit dem alten Geld. Aber der Vermieter der pensão , Jorge, von dem man erwarten würde, dass er lügt, hatte nicht gelogen. Er hatte mit Ellipsen und Auslassungen gearbeitet, seine Worte zensiert und redigiert, doch letztendlich hütete er keine eigenen Geheimnisse. Das war der Unterschied. Valentim hingegen hatte Potenzial und jede Menge Übung. Wahrscheinlich log er, seit sein Vater ihn verlassen hatte. Er vertraute keinem, nicht einmal seiner Mutter. Nicht zu vergessen das Opfer. Catarina Oliveira musste sich zu Lebzeiten auch ganz schön was zusammengelogen haben, aber warum dieses Spiel mit ihrer Mutter? Was sollte das? Sie anzurufen und nach Hause zu bestellen. Wozu? Um ihr zu zeigen, dass sie es wusste? Um ihr zu zeigen, dass sie besser war? Um sie zu bestrafen?
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Mein Bauch hatte mir etwas gesagt. Behalt den Anwalt im Auge. Das war bisher alles. Wegen Valentim war ich mir unsicher. Es ist schwer zuzugeben, dass man Analverkehr mit einem jungen Mädchen hatte. Auch für ihn noch beschämend. Vielleicht gab es wirklich einen anderen. Ein anderes Schwein, das ihr das angetan, sich geschämt und sie dann, aus dem Gefühl der Scham heraus, getötet hatte. Dann war es wahrscheinlich ein Freier. Jorge sagte, dass sie schon seit Monaten zur Aufbesserung des Taschengelds Männer empfangen hatte. Der Liebhaber behauptete, sie hätte nach dem Sex
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