Tod in Lissabon
wünschte, ich hätte Carlos mitgebracht, damit ein anderer Fragen hätte stellen und beantworten können, während ich mich ohne den Druck der Aufmerksamkeit ganz meinen müßigen Betrachtungen hätte hingeben können.
Ich wollte wissen, wie alt sie war, und versuchte, ihre Handrücken zu mustern, doch sie hielt keine Sekunde still. Vermutlich irgendetwas zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig. Sie trat gegen mein Bein und legte ihre Hand auf mein Knie, als sie sich entschuldigte. Ich kam mir vor, als hätte man mich in eine Steckdose gestöpselt, das Blut schoss durch meine Adern wie Quecksilber. Wie ging das noch? Was sagte man? Wo waren die Worte geblieben?
»Inspektor?«
»Ja«, sagte ich und sah, dass sie ihren Kopf zur Seite gelegt hatte und auf eine Antwort wartete. »Es war ein langer Tag, Senhora Doutora.«
»Luísa«, sagte sie. »Ich habe zu viel geredet. Wenn ich den ganzen Tag gearbeitet habe und es Abend wird, muss ich einfach reden. Sie hier zu haben ist ein seltener Luxus. Normalerweise gehe ich in das Café unten und versuche, die Barkeeper in ein Gespräch zu verwickeln, aber sie sind so mürrisch dort und müssen hart arbeiten. Ich erzähle es ihnen trotzdem, meinen ganzen Tag voller Unsinn. Und jetzt mache ich es wieder. Ich rede zu viel. Sie sind dran.«
»Ich persönlich hätte nichts gegen noch ein bisschen mehr Unsinn einzuwenden«, sagte ich. »Ich höre nicht genug Unsinn. Zu viel Sinnloses, aber nicht genug Unsinn.«
»Ich bin um acht aufgestanden und saß schon um neun am Schreibtisch. Es war perfekt, alles lief bestens. Dann habe ich Kinder auf der Straße spielen hören, aber keinen Verkehr, und dann ist mir eingefallen, dass Samstag ist und ich deswegen hier zu Hause arbeite und nicht unterrichte. Dann dachte ich: Was machen die Kinder am ersten heißen Sommertag in der Stadt? Warum fahren sie nicht mit irgendwem zu einem Picknick an den Strand? Warum lädt mich niemand zu einem Picknick am Strand ein? Warum sitze ich hier und schreibe gelehrten Mist, den maximal fünf Menschen lesen werden? Ich spüre, wie die Sinnlosigkeit sich wie eine Flutwelle über mir zu brechen droht, und bevor das passiert, mache ich mich wieder an die Arbeit. Ich arbeite den ganzen Nachmittag … und niemand ruft mich an. Sie sind alle am Strand.«
»Mein Anruf war der einzige.«
»Mein Retter.«
»Die Polizei, dein Freund und Helfer.«
Sie lachte.
»Das ist schließlich Ihr Job, oder?«
Vielleicht nur eine dahingeworfene Bemerkung, doch ich duckte mich weg. Ich bin seit Jahren mit dem Fangen aus der Übung. Routine habe ich nur im Auflesen von Einzelteilen.
»Ich hatte Glück, dass Sie zu Hause waren«, sagte ich. »Ein weiterer Anruf, und Sie wären weg gewesen.«
»Es war schon klar, dass ich nirgendwohin gehe«, sagte sie, und eine stille Melancholie kroch in das Zimmer.
»Nicht bloß die Arbeit?«
»Nein«, sagte sie, musterte mich sorgfältig und zuckte dann die Achseln. »Ich habe mich vor kurzem von meinem Freund getrennt und bin vom Rand der Erde gerutscht. Aber das ist kein Unsinn, sondern ernsthaft und tödlich langweilig.«
»Eine lange Beziehung?«
»Zu lang. So lang, dass wir nicht geheiratet haben«, sagte sie und überrumpelte mich mit der Frage: »Und Sie?«
»Was soll mit mir sein?«, fragte ich irritiert, daran gewöhnt, dass ich die Fragen stelle, ohne dass mich je irgendwer etwas Persönliches fragt.
»Sind Sie verheiratet?«
»Das war ich achtzehn Jahre lang.«
»Die Polizeiarbeit ist wahrscheinlich nicht besonders gut für eine Ehe.«
»Sie ist gestorben.«
»Das tut mir Leid.«
»Vor etwa einem Jahr«, sagte ich, bevor mir etwas auffiel. »Das heißt, eigentlich war ich dann nur siebzehn Jahre verheiratet. Es ist bloß …«
Es war noch dunkler geworden, und mittlerweile saßen wir beide außerhalb des begrenzten Lichtscheins aufrecht auf den Kanten unserer Stühle und versuchten im warmen Halbdunkel das Gesicht des anderen auszumachen.
»Ich tauche langsam wieder auf«, sagte ich, erst ermutigt, dann irritiert von der Intimität der Situation, aus der ich plötzlich aussteigen wollte. »Aber das ist wahrscheinlich auch ernsthaft und tödlich langweilig.«
»Und so enden wir.«
»Wie meinen Sie das?«
»Die ernsthaften und tödlich langweiligen Menschen verbringen ihre Samstagnachmittage mit Arbeit. Es ist das Einzige, das uns das Gefühl gibt, etwas wert zu sein.«
»Ich habe eine Tochter. Das hilft. Und ich arbeite, weil ein gesichtsloser Mann
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