Tod in Marseille
langsam. Ihre Stimme ist ungewöhnlich klar. Jeder Anschein von Müdigkeit oder Trunkenheit ist daraus verschwunden. Als sie weiterredet, ist es, als spräche sie zu sich selbst.
Der Vater ein Schwein, die Mutter eine bigotte Schlampe. Und da draußen die weite Welt. Sie schweigt und denkt: Was hättest du getan, Nini, na, was hättest du da getan?
Kann ich die Ausschnitte wiederhaben?, fragt das Mädchen. Auch seine Stimme hat sich verändert. Es ist, als hätte eine Verständigung zwischen den beiden stattgefunden über etwas, das nun klar ist.
Ja, hier. Die Alte reicht dem Mädchen die Papiere. Ihre Hand zittert ein wenig, und sie zieht sie schnell zurück.
Danke, sagt das Mädchen. Einen Augenblick bleibt es unschlüssig stehen. Von der Straße herauf klingen Stimmen, Männerstimmen, mindestens drei, die sehr laut sind und trotzdem nicht zu verstehen.
Bist du schon einmal in Marseille gewesen?
Marseille, sagt Nini, Marseille ist das Leben. Wenn man Geld hat. Nimm das Kissen aus meinem Rücken. Ich will schlafen. Ich glaube nicht, dass deine Leute Wert darauf legen, dass du dich verabschiedest. Lass es sein. Das macht nur Ärger.
Vielen Dank für die Übersetzung, sagt Maria-Carmen.
Jetzt klingt ihre Stimme so, als wäre etwas Unangenehmes zwischen ihnen vorgefallen und sie wollte sich distanzieren.
Ich gehe dann.
Sie wendet sich um und verlässt die Wohnung. Ihre Schritte auf der Treppe sind erst einen Moment später zu hören, genau so lange, wie sie gebraucht hat, um die Zeitungsausschnitte wieder in ihrer Wäsche verschwinden zu lassen.
Nini liegt auf dem Rücken und horcht auf das Geräusch, bis die Haustür ins Schloss gefallen ist. Unten auf der Straße geht Maria-Carmen schnell und zufrieden davon. Sie hat gehofft, in den Texten etwas über den Fremden zu finden, über sein Leben, seine Herkunft. Stattdessen hat sie erfahren, wohin sie gehen wird, und das scheint ihr jetzt noch wichtiger zu sein.
Am Morgen nach dem Besuch des Mädchens erwachte Nini früher als sonst. In der Straße vor dem Haus war es noch still. Sie blieb liegen, hob die Hände hoch und hielt sie einen Augenblick ausgestreckt von sich weg. Morgens waren ihre Hände ruhig. Zufrieden legte sie sie zurück auf die Bettdecke. Durch die Fenster im Wohnzimmer kam graues Licht. Es war zu früh, um aufzustehen. Sie wandte den Kopf, sah das Glas auf dem Nachttisch, daneben den Kaffeebecher, und der nächtliche Besuch fiel ihr ein. Die kleine Herera war bei ihr gewesen. Was hatte sie gewollt? Sie hatte sich etwas vorlesen lassen. Was eigentlich?
Nini setzte sich auf und begann mit der Rekonstruktion der Nacht. Es kam ihr so vor, als wäre ihr Gehirn noch müde. Zu wenig Schlaf.
Zu viel Gin, meine Liebe, sagte sie laut. Mach dir nichts vor. Da muss zu viel Gin im Spiel gewesen sein.
Sie ließ sich in die Kissen zurückfallen, vielleicht ein Versuch, den Schlaf nachzuholen und dadurch die Erinnerung wiederzufinden. Eine Weile dämmerte sie vor sich hin, aber das Licht vor den Fenstern wurde heller. Von unten kamen die Stimmen der Müllmänner und das Klappern der Mülleimer herauf. Aus dem Hafen war deutlich die Sirene der ersten Fähre zu hören.
Die Fähre. Nini setzte sich auf, schneller diesmal und ohne ihre Hände noch einmal der morgendlichen Probe zu unterziehen. Und als wäre durch die plötzliche Bewegung ihre Erinnerung an die vergangene Nacht geweckt worden, hatte sie nun alles wieder im Kopf, bis hin zu den Worten, die sie gedacht hatte, als das Mädchen ihre Wohnung verließ.
Da geht deine Chance, Nini.
Das hatte sie gedacht. Aber was sollte das bedeuten? Sie konnte doch unmöglich geglaubt haben …
Die Kleine hatte Geld. Sie hatte es nicht abgestritten.
Bleib ganz ruhig, Nini. Denk jetzt genau nach, sagte sie laut.
Draußen fuhren die ersten Autos herum. Das Aluminiumrollo vom Supermercado gegenüber wurde hochgezogen. Auf dem Balkon vor ihrem Wohnzimmer versammelten sich schimpfende Spatzen. Nichts von allem nahm Nini wahr.
Ja, sagte sie irgendwann schwer atmend und stand auf. Erst jetzt sah sie, dass sie noch das Kleid trug, in dem sie am Abend zuvor die Wohnung verlassen hatte. Sie zog sich aus, ließ das zerknitterte Kleid und auch ihre Wäsche achtlos auf dem Boden liegen und ging ins Bad. Ihre Beine waren dünn. Unter der braunen Haut zeichneten sich die Knochen ab. Sie hatte fast keine Brüste. Der harte Wasserstrahl aus der Dusche traf sie zuerst im Rücken. Um ihm standzuhalten, klammerte sie sich
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