Tod in Marseille
jetzt.
Nini zieht ihre Arme unter der Decke hervor, dünne, runzlige braune Arme. Am linken Handgelenk trägt sie eine große bunte Uhr. Als sie den Arm ausstreckt, um nach dem Becher zu greifen, den das Mädchen ihr hinhält, rutscht das viel zu weite Uhrarmband ein Stück hinauf.
Igitt, schmeckt das fürchterlich. Bist du nicht die Kleine von den Hereras? Was tust du denn hier? Haben sie dich hergeschickt, um mir Kaffee zu kochen? Mitten in der Nacht. Aber wenn du schon da bist: Hol mir den Gin aus dem Kühlschrank. Mich friert. Schön warm, dein Kaffee. Gib mir die Decke von da drüben.
Der Arm mit der schlenkernden Uhr zeigt auf die Tür zumSchlafzimmer. Maria-Carmen sieht erst jetzt, dass dort ein Bett steht mit einer rosafarbenen Bettdecke, deren Rüschen bis auf den Boden reichen. Sie geht hinüber und nimmt eine weiße Wolldecke vom Fußende des Betts. Im Schlafzimmer riecht es nach Parfüm und nach etwas anderem, das sie nicht definieren kann. Sie legt der alten Frau die Decke über den Körper, nimmt ihr den Becher aus der Hand und stopft die Decke unter ihren Armen fest. Nini beobachtet sie.
Kannst mich ins Bett bringen, wenn du schon da bist, sagt sie.
Gleich, Nini. Möchtest du eine Zigarette?
Dass ich im Bett verbrenne, was?
Ich pass schon auf. Aber lies. Hier.
Sie reicht Nini eine brennende Zigarette und beobachtet, wie die von vielen Fältchen umgebenen Lippen die Zigarette halten, ohne dass Nini ihre Hände gebraucht.
Zeig schon her.
Die Zigarette wandert von einem Mundwinkel in den anderen, während sie liest. Sie liest stumm. Als sie fertig ist, behält sie die beiden Zeitungsausschnitte in ihren Händen, die braun und fein und runzelig auf der Decke liegen. Sie sieht Maria-Carmen aufmerksam an.
Das solltest du wegwerfen, sagt sie schließlich. Es ist nichts für junge Mädchen wie dich.
Ich muss wissen, was da steht. Bitte.
Nini breitet die Papiere vor sich auf der Decke aus. Mit einem langen roten Fingernagel fährt sie die Zeilen entlang, während sie nicht vorliest, sondern den Inhalt sinngemäß wiedergibt.
Marseille, am 20. August 2007 und am 19. September 2007. Am 20. August hat es in einem Viertel in der Altstadt eine Schießerei gegeben. Nachts. Zeugen erzählen von einem Überfall auf eine Gruppe von Männern und Mädchen, die wohl die Nacht durchgezecht hatten und dann in einem Bistro nach Kaffee verlangten. Und dann hat’s plötzlich geknallt. Zwei Tote.
Nini hebt den Kopf und sieht Maria-Carmen an. Die erwidert ihren Blick, ohne sich zu rühren.
Und weiter?
Am 19. September im selben Jahr ist in Marseille eine Frau verhaftet worden.
Die auf dem Foto?
Nini sieht weiter Maria-Carmen an. Die hält ihr ein Foto hin. Nini greift danach. Das Bild ist dem von der Frau in dem Artikel nicht besonders ähnlich, aber sie könnte es sein. Das Foto ist zerknittert. Maria-Carmen hat es seit Wochen, zusammen mit dem Geld, zwischen Hemd und Haut getragen.
Steht da, wer das ist?
Nini schweigt, versucht, sich in den Zeilen zurechtzufinden, und sagt dann: Jedenfalls kein Umgang für dich. Sie soll ein … ach was, einen ganz gewöhnlichen Puff in der Altstadt gehabt haben. Angeblich waren die Krachmacher vorher bei ihr zu Besuch gewesen. Dabei ist einiges zu Bruch gegangen, scheint es.
Ja? Und?
Nichts und. Sie haben sie verhaftet. Nach ein paar Stunden wurde die Frau wieder freigelassen. Auf der Straße ist sie dann erschossen worden. Direkt vor dem Polizeipräsidium, scheint es. Nini schweigt.
Ich hab noch einen, sagt das Mädchen. Das waren erst zwei Artikel. Du musst ihn nicht übersetzen. Sag mir nur, ob ich recht habe: Da unten, ist das ein Straßenname?
Ja. Was willst du mit einem Straßennamen in Marseille? Willst du einen Brief schreiben?
Lass. Das ist nicht wichtig.
Nini schiebt die Artikel zusammen, behält sie aber in der Hand. Gib mir ’n Gin, sagt sie. Hat er dir das gegeben? Bevor sie ihn erwischt haben?
Maria-Carmen steht auf, geht in die Küche und kommt mit einem halbvollen Wasserglas zurück, dessen Wände beschlagen sind.
Hier, sagt sie und reicht der alten Frau das Glas. Nein, er hat mir nichts gegeben.
Es entsteht eine Pause, in der Nini langsam den Gin trinkt, bis das Glas fast leer ist.
Dann fragt sie: Du hast sie gefunden. Das war nicht alles, was du gefunden hast, hab ich recht?
Nein, das war nicht alles.
Wieder entsteht eine Pause, aber diesmal trinkt die Alte nichts. Sie sieht das Mädchen nur an.
Ich kann sehen, was du vorhast, sagt sie
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