Tod in Marseille
Männer, die damit begannen, die Brücke für die Fußgänger hochzuziehen, ließen sich ebenfalls erweichen und warteten noch einen Augenblick, ihre Augen auf die beiden Frauen gerichtet. Nini stolperte den Steg hoch. Die Schiffssirene heulte. Das weiße Schiff mit dem gelben Aufbau, in dem hinter dunklen Scheiben die Passagiere saßen und auf die Insel starrten, die sie gerade verließen, nahm Fahrt auf.
Maria-Carmen hatte hinter den Scheiben gestanden und auf die Ledertasche gesehen. Einen Augenblick lang war sie im Begriff gewesen, noch einmal hinunterzulaufen und die Tasche zu holen. Aber was hätte sie mit der Tasche anfangen sollen? Dann hatte sie Nini beobachtet und deren Manöver, in letzter Minute an Bord zu gelangen, und sich erleichtert einen Platz gesucht. Sie dachte nicht darüber nach, weshalb sie erleichtert daraufreagierte, dass Nini es an Bord geschafft hatte. Sie wusste ja nicht, ob sie allein schaffen würde, was sie sich vorgenommen hatte.
Während der Überfahrt sah sie Nini nicht. Es war wirklich das erste Mal, dass sie die Insel verließ. Seit sie denken konnte, hatte sie den Teide von Teneriffa herüberleuchten sehen. Als ganz kleines Mädchen hatte sie geglaubt, der Berg würde auf eine besondere Weise zu ihr sprechen. Sie hatte immer gewusst, dass sie ihm eines Tages näher kommen würde. Nun lag er vor ihr, nur noch durch ein Stückchen Wasser von ihr getrennt. Unterhalb der Spitze hatte er sich einen Schal aus Wolken umgelegt, einen sehr feinen, zarten Schal, der seinen gewaltigen grünen und graubraunen Leib noch gewaltiger aussehen ließ.
Das Schiff fuhr sehr schnell. Schon bald waren einzelne Häuser an den Flanken des Berges zu erkennen. Maria-Carmen gefiel dieses Bild nicht. Er hätte unberührt sein sollen, ihr Berg. Der Anblick der Häuser wirkte ernüchternd, und die Ernüchterung löste ein Gefühl aus, das dem der Angst nicht unähnlich war. Als das Schiff in den Hafen von Los Cristianos einlief, war sie unsicher, ob sie das Richtige getan hatte, und verwirrt von den Menschenmengen, die sich am Hafen drängten und die Ankunft des Schiffes beobachteten. Am liebsten wäre sie umgekehrt, aber der Strom der Passagiere trieb sie von Bord.
Nini hielt sich in der Nähe auf, ohne von dem Mädchen wahrgenommen zu werden. Ihr entging die Verfassung der Kleinen nicht. Aber sie machte sich nicht bemerkbar. Erst als sich unten am Kai die Menschen verlaufen hatten und sie einen Taxifahrer beobachtete, der keine Fahrgäste ergattert hatte und sich nun Maria-Carmen näherte, gab sie ihr Versteckspiel auf. Schnell, schneller, als sie es selbst für möglich gehalten hat, stürzte sie auf den Taxifahrer zu.
Gran Hotel!, schrie sie, noch ein paar Schritte entfernt. Da steht meine Tasche. Wir wollen ins Gran Hotel. Steig ein, los, steh hier nicht rum.
Nini buchte das Zimmer auf ihren Namen. Sie wusste nicht genau, weshalb, denn bezahlen wollte sie es nicht. Aber aus irgendeinem Grund schien es ihr sicherer, wenn der Name Maria-Carmen Herera in der Gästeliste des Hotels nicht auftauchte. Im Zimmer bestellte sie Gin und etwas zu essen, während Maria-Carmen in dem riesigen Badezimmer herumhüpfte, den rosa Marmor bewunderte und dann unter der Dusche verschwand. Irgendwann tauchte sie wieder auf, in einen schwarzen Bademantel gewickelt und so gut gelaunt, als wäre ihre Abreise die normalste Sache von der Welt gewesen.
Sie ist froh, dass sie mich dabeihat, dachte Nini, während sie die Kleine beobachtete. Weiß sie eigentlich selbst genau, was sie vorhat?
Iss was, sagte sie und zeigte auf die Tapas, die ein Kellner inzwischen gebracht hatte. Ich muss mit dir reden.
Sie verschwand selbst im Bad, während Maria-Carmen das Fernsehgerät einschaltete, im Sessel hockte und mit spitzen Fingern nach den Oliven griff, die vor ihr auf dem Teller lagen. Als Nini wenig später in der Tür des Badezimmers stand, lachte das Mädchen laut auf.
Du passt in einen einzigen Ärmel, sagte sie.
Nini versank in dem schwarzen Mantel, den sie mit beiden Händen hochhalten musste, um nicht auf den Saum zu treten. Ihre Finger ähnelten Vogelkrallen, die aus schwarzen Ärmelröhren hervorsahen.
Lach nicht, mach mir lieber einen Gin Tonic, sagte Nini, während sie vorsichtig auf einen zweiten Sessel zusteuerte. Wir haben zu reden. Mach das Ding aus.
Maria-Carmen maulte, aber nicht lange. Sie tat wie geheißen, stellte das Glas vor Nini hin, blieb stehen und sah sie an.
Eine Frage zuerst, sagte Nini, haben wir
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