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Tod in Marseille

Tod in Marseille

Titel: Tod in Marseille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Gercke
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geschafft, wenn mein Matrose mich nicht sitzengelassen hätte. Da hab ich denen dann leidgetan. Ich hab gemerkt, die sind gar nicht so, und hab mich mit ihnen angefreundet. Sie tranken zwar keinen Gin und gingen sonntags in die Kirche, aber sonst waren sie in Ordnung. Nur wenn sie ihre Prozessionen machten, hab ich noch an das Kannibalengerücht gedacht und bin lieber zu Hause geblieben. Die dumpfen Trommelschläge hab ich bis in meine Wohnung gehört, und das erste Mal, als sie die Sardine am Strand verbrannt haben, da hab ich befürchtet, die Insel steht in Flammen. Waren ja mal Fischer, die Leute in San Sebastián, und das brennende Untier, das riesig war, sollte ihren Meergott beruhigen. Heute kommen die Touristen, und alles ist Theater …
    Ninis Kopf fiel einfach auf die Rückenlehne des Sessels, und sie begann übergangslos zu schnarchen.
    Auch das noch, dachte Bella. Aber sie war nicht mehr wütend darüber, dass sie Nini mitgenommen hatte. Diese kleine alte Frau war so lebendig, dass es durchaus auch ein Vergnügen sein konnte, mit ihr zusammen zu sein. Und ihr, Bella, würde es nichts ausmachen, Nini dabei zu helfen, diesen Satansbraten von Mädchen zu finden. Was die beiden dann miteinander anfingen, ging sie nichts mehr an. Aber bei ihrer Suche würde sie in der Stadt herumkommen, vielleicht Viertel entdecken, die ihre literarischen Reisebegleiter nicht erwähnt hatten, und ganz sicher auf Menschen treffen, die heute und nicht 1930 oder 1941 oder im Jahr 1999 in Marseille lebten.
    Vorsichtig nahm sie Nini auf und trug sie auf das Sofa an ihrem Wohnzimmer. Der kleine Körper passte genau auf die Sitzfläche. Bella breitete eine Decke darüber, sah einen Augenblick auf sie hinab und verließ auf Zehenspitzen den Raum.

Mama Rose
    Während Bella und Nini schliefen, begann in den Räumen von Mama Rose der Betrieb. Auch wenn die meisten Kunden erst später kamen, war es Gesetz, dass die Frauen ab zwanzig Uhr zur Verfügung zu stehen hatten. Es gab noch ein paar andere Gesetze, denen sich die Frauen unterwerfen mussten und die ebenfalls in keinem Gesetzbuch zu finden waren. Alle dienten dazu, Zuhälterinnen wie Mama Rose, den Freiern, die ihre Einrichtungen besuchten und den Schleppern, die die Frauen nach Europa brachten, den Rücken frei zu halten. Zwei der wichtigsten hießen: Sag niemandem, wie du nach Europa gekommen bist, denn sonst wird deine Familie in Afrika darunter leiden, und: Sei gehorsam in allem, was von dir verlangt wird, denn sonst wird der Fluch wirksam, den der Voodoo-Zauberer dir vor deiner Abreise für den Fall des Ungehorsams zugedacht hat.
    Es war schwer zu sagen, was die jungen Frauen mehr einschüchterte: die Angst davor, am Mord oder an der Verstümmelung eines Familienmitglieds die Schuld zu tragen, oder die Angst, selbst krank zu werden und zu sterben. Auf jeden Fall waren beide Drohungen dazu geeignet, Mama Rose ihre Arbeit zu erleichtern. Schließlich war sie es, die den Mädchen nach einer langen und erniedrigenden Reise eine Heimat bot. Und wenn sie jetzt – es war noch kaum Kundschaft im Bordell – auf ihrem Sitz neben der Tür, die zu den Arbeitsräumen führte, darüber nachdachte, dann konnten die dummen Dinger tatsächlich nur froh sein, dass sie bei ihr gelandet waren.
    Mama Rose trug ein leuchtend rotes Gewand, so weit, dass ihre zweihundertfünfzig Pfund locker davon umhüllt wurden. Ihr schwarzes Gesicht mit den winzigen, im Fett verschwindenden Augen wirkte entspannt. Wenn sie lächelte, war eine Reihe spitzer goldener Zähne zu sehen. Unter dem roten Turban, hieß es, hätte sie ihre Haare versteckt. Manche munkelten allerdings, Mama Rose hätte überhaupt keine Haare. Jedenfalls hatte nie jemand Haare auf ihrem Kopf gesehen. Aber das wollte nichts heißen, denn es kam nur sehr selten vor, dass eine der Frauen länger als ein halbes Jahr bei ihr blieb. Waren sie dann weg, interessierten sie sich ganz sicher nicht mehr dafür, ob Mama Rose Haare gehabt hatte. Für die jedoch, die bei Mama Rose arbeiteten, galt: Wen interessieren schon Haare, wenn man sich vor den Füßen fürchten muss.
    Unter dem weiten roten Gewand sahen sie hervor: zwei dicke Füße, so dick, dass es kaum Schuhe gab, die bequem gewesen wären. Trotzdem trug Mama Rose Schuhe. Das nahm sie in Kauf. Pantoffeln wären bequemer gewesen, aber Mama Rose legte Wert auf Eleganz, und Pantoffeln trug man nicht während der Arbeitszeit. Außerdem wären die Tritte, zu denen sie mitunter gezwungen war, dann

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