Tod in Marseille
längst nicht so wirksam gewesen.
Die Mädchen wussten, dass Mama Rose alles für sie tat. Sie nahm sie auf, wenn sie, verstört von der langen Reise, in Marseille ankamen. Sie gab ihnen Arbeit und Unterkunft. Sie kleidete sie und verwahrte das Geld, das sie verdienten und das sie eines Tages brauchen würden, wenn sie sich eine eigene Wohnung kaufen oder ihre Familie unterstützen wollten.
Da war es nicht mehr als recht und billig, dass die Mädchen die Gesetze befolgten, die im Haus von Mama Rose galten. Sie verlangte neben Pünktlichkeit Gehorsam und Attraktivität. Gehorsam hieß auch, dass man den Wünschen der Freier nachzukommen hatte, und Attraktivität bedeutete, dass unter den prüfenden Augen von Mama Rose jedem Mädchen eine Bekleidung verordnet wurde, die dessen Schönheit besonders hervorhob. Diese Kleidungsstücke wurden gleich doppelt angefertigt, und die Mädchen waren gehalten, immer und zu jeder Stunde so frisch auszusehen wie am ersten Tag, nachdem sie sich vonihrer langen Reise erholt hatten, eingekleidet worden und bereit waren, ihre Arbeit aufzunehmen.
Weshalb halten sie nicht länger durch?, dachte Mama Rose, während ihr Blick über die Frauen ging, die sich im Salon versammelt hatten. Sie haben es doch gut bei mir. Es ist unbequem, so häufig für Ersatz sorgen zu müssen. Es macht unnötige Arbeit. Die da zum Beispiel, Amma mit den spitzen Brüsten, die war jung, kein Zweifel, sie war gerade sechzehn, nicht älter. Ein Wunder, dass sie den langen Weg von Nigeria bis nach Marseille überstanden hatte. Bei der Übergabe hatte der Verkäufer ihr Ammas Geschichte erzählt, wohl um damit anzudeuten, wie stark die Kleine war. Sie war aus Nigeria über die Republik Niger, durch Algerien, über Algier in den Süden von Marokko und von dort nach Tanger gebracht worden. Von Tanger aus hatten sie es dann über die Meerenge bei Gibraltar nach Europa geschafft; ein Wunder geradezu, denn die Frontex-Truppen, die die europäischen Grenzen bewachten, waren hier besonders aufmerksam. Vielleicht waren die Soldaten bestochen gewesen. Mama Rose wusste, dass man ihnen manchmal ein Mädchen überließ, um fünf andere durchzubringen. Sie wusste es deshalb, weil sie die Bestellungen aufgab und die Schlepper sich rechtfertigen mussten, wenn weniger Mädchen ankamen, als sie erwartete.
Amma war bald wieder munter geworden. Sie hatte sich damals schnell erholt, und ein paar Wochen lang war sie die Attraktion im Salon gewesen. Irgendwann aber hatte sie angefangen zu trinken. Es stand den Mädchen frei, sich an der Bar zu bedienen. Die Klügeren unter ihnen gingen sparsam mit diesem Angebot um. Amma war nicht klug. Sie trank zuerst Wein und stieg dann irgendwann auf härtere Sachen um. Sie würde die Nächste sein, die ausgewechselt werden müsste. Ihr Körper schien noch in Ordnung, aber ihre Haltung war schon die einer Dreißigjährigen.
Ein Schatten glitt über das Gesicht von Mama Rose. Der Schmerz. Da war er wieder, der verflixte Schmerz. Ein halbes Jahr, hatte der Arzt gesagt, vielleicht auch ein ganzes, mehr nicht. Sie wollte nach Hause. Sie wollte in Benin City sterben. Sie wollte genug Geld haben, um sich in ihren letzten Monaten dort bedienen zu lassen. Kein Krankenhaus. Mittel gegen Schmerzen würde sie brauchen, und die Pflege müsste sie bezahlen können.
Mühsam stand sie auf und winkte eines der Mädchen heran. Es kamen zwei, die sie stützten und ihr halfen, die Treppe zur nächsten Etage hinaufzuwanken.
Geht, sagte sie, während sie schnaufend vor der Tür stehen blieb und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Geht. Ich schick euch Maria.
Die Mädchen liefen die Treppe hinunter. Man hörte eine Tür hinter ihnen ins Schloss fallen. Oben öffnete sich die Tür, vor der Mama Rose stand. Maria-Carmen sah ihr entgegen, streckte ihre Hände aus und zog sie zu sich heran.
Danke, stöhnte Mama Rose, ich will mich hinlegen, bring mir die weiße Schachtel, du weißt schon.
Sie sprach spanisch. Maria-Carmen beeilte sich, ihr zu gehorchen. Sie brachte die Schachtel und ein Glas Wasser. Wenig später lag Mama Rose auf ihrem breiten, mit bunten Stoffen bedeckten Bett, und ihre Gesichtszüge entspannten sich langsam.
Erzähl mir von ihm, sagte sie leise. Erzähl mir noch einmal, wie du den Gauner kennengelernt hast.
Maria-Carmen tätschelte Mama Rose die Hand, die vom Bett herunterhing, und hielt sie fest. Sie begann zu erzählen. Sie sprach davon, was sie gedacht hatte, als der Fremde im Speisesaal
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