Tod in Marseille
das die Verzierungen an den Fassaden der alten Häuser und an den Einfassungen der Fenster scharf hervortreten ließ, sodass die Gebäude nun in ihrer ganzen Hässlichkeit und Verkommenheit zu sehen waren. Auch das Haus, in dem sie ihre Zukunft gesehen hatte, war nichts weiter als ein heruntergekommenes Stück Dreck.
Du kannst jetzt reingehen, hatte der Afrikaner gesagt.
Und das hatte sie getan. Was hätte sie sonst tun sollen? Über die Straße, die Tasche in der Hand, verschlafen, ungewaschen. Vor ihr war die Tür von selbst aufgegangen. Sie war die Treppe in den ersten Stock emporgestiegen. Auch dort war eine Tür von allein aufgegangen. Sie hatte einen Flur betreten, dessen Wände mit dunkelroten Tapeten beklebt waren. Es war warm dort und roch nach Puder und Parfüm. Am Ende des Flurs war eine offenstehende Tür gewesen, und durch diese Tür hatte sie Mama Rose gesehen: ein gewaltiges Gebirge aus Fett und buntem Stoff, auf einem Stuhl, der extra für sie angefertigt worden sein musste, breiter und höher als alle Stühle, die sie bisher gesehen hatte.
Alles, was ihr beim Anblick dieser Frau durch den Kopf schoss, hatte weder Sinn noch Verstand gehabt. All ihre Pläne vom leichten Leben in einer Halbwelt, die sie nicht einmalkannte, wurden mit einem Schlag über den Haufen geworfen. Das Gesicht der Dicken verhieß nichts Gutes. Diese Frau würde sie in der Luft zerreißen und die Fetzen in den Abfall kehren lassen. Wie um ihre Ängste zu bestätigen, war hinter ihr der Afrikaner aus dem Bistro aufgetaucht, an ihr vorübergegangen und hatte sich neben Mama Rose aufgebaut.
Komm näher, Kleine. Es war Mama Rose, die zuerst sprach.
Und sie, die Kleine, hatte ihren ganzen Mut zusammengenommen und zwei Schritte nach vorn gemacht. Sie erinnerte sich noch immer genau daran, dass sie beim Anblick der dicken Füße in den zu engen Schuhen plötzlich gewusst hatte, dass hier nicht nur ihre Pläne in Erfüllung gehen könnten, sondern wenn sie es richtig anstellte, würde sie sich der dicken Frau unentbehrlich machen und sie beerben können.
Sie war vor Mama Rose stehen geblieben und hatte gesagt: René lässt Sie grüßen.
Mama Rose war eingeschlafen. Der Turban, der ihren kahlen Schädel bedeckt hatte, war zur Seite gerutscht. Schlafend und ohne Turban sah sie aus wie ein dicker alter Mann. Maria-Carmen legte den Kopfschmuck zur Seite und bedeckte den Körper mit einer Decke aus imitiertem Tigerfell. Ihre Hände bewegten die Decke sorgfältig, ihre Augen musterten die vor ihr liegende Person aufmerksam, aber ohne Anteilnahme. Sie hatte keine Gefühle für Mama Rose. Die Dicke war der Jeton, den sie auf die Zukunft gesetzt hatte. Dieser Jeton musste so lange gehütet werden, bis er Gewinn einbrachte.
Maria-Carmen brauchte eine Woche, bis sie herausfand, dass Mama Rose todkrank war und nach Hause wollte. Sie überließ dem Mädchen sehr schnell die Geschäfte, für die sie zu müde war. Als Erstes hatte Maria-Carmen dem Afrikaner vom Bistro das Gehalt erhöht. Sie wusste, dass sie jemanden brauchen würde, der auf ihrer Seite stünde, wenn Mama Rose nicht mehr da wäre. Der Afrikaner aber blieb misstrauisch. Erst als MamaRose ihm bedeutete, dass sein Misstrauen grundlos sei, ja in Wirklichkeit dazu beitragen könnte, dass er seine Stellung verlöre, hatte sich seine Haltung geändert. Trotzdem war es Maria-Carmen am Anfang unklar gewesen, weshalb diese beiden in ihren Augen mächtigen Personen, die ein äußerst einträgliches Geschäft mit jungen schwarzen Frauen betrieben, sie so schnell zu ihrer Mitwisserin gemacht hatten. Irgendwann beschloss sie, Fofo, den Afrikaner, zu fragen.
Als sie das Bistro betrat, nun selbst in bunten Stoff gehüllt und mit einem Turban auf dem Kopf, sah er ihr nicht mehr unfreundlich entgegen.
Setz dich zu mir, Fofo, sagte sie, und lass uns reden. Du weißt, dass Mama Rose mich schätzt.
Ja, sagte Fofo, das tut sie.
Er stellte zwei Gläser mit einer grünen Limonade auf den Tisch, bevor er selbst Platz nahm. Maria-Carmen meinte zu sehen, dass seine Hände leicht zitterten.
Sie hat mir angeboten, das Geschäft zu führen, wenn sie für einige Zeit nach Hause geht.
Sie geht nach Hause und kommt nicht wieder, sagte Fofo.
Sie könnte dich das Geschäft führen lassen oder eines der Mädchen.
Nein, sagte Fofo.
Und weshalb nicht?
Dafür gibt es verschiedene Gründe. Ich habe nicht immer für Mama Rose gearbeitet. Noch von früher her bin ich der Polizei bekannt. Vielleicht würde man
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